Coronavirus:Warum Italien so stark betroffen ist

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  • Mit 3405 Todesopfern hat Italien am Donnerstag China als das Land mit den meisten Opfern des Coronavirus abgelöst.
  • Offiziell sind mehr als 41 000 Menschen infiziert - Experten gehen von weitaus mehr aus.
  • Die Gründe sind in der Demografie, der Luftverschmutzung und Einsparungen im Gesundheitssystem des Landes zu suchen.

Von Oliver Meiler, Rom

Die Italiener sagen von ihrem Land, es sei das "Epizentrum der Pandemie". Das ist ein schiefes Bild, es mischt Katastrophen unterschiedlicher Genres miteinander. Dennoch passt die Metapher, wenigstens momentan. Am Donnerstag, um 18 Uhr, hat der nationale Zivilschutz in seiner täglichen Medienkonferenz, einem nun fixen Termin des neuen italienischen Alltags, bekanntgegeben, dass das Coronavirus in Italien bisher mehr Opfer gefordert hat als in jedem anderen Land der Welt, nämlich 3405 - das sind auch mehr als in China, wo es ursprünglich herkam.

In den vergangenen zwei Tagen kamen zunächst 475 und dann 427 Opfer dazu. Nie davor in der Krise, auch in der akuten Phase in Wuhan nicht, hatte es an zwei Tagen in Folge so viele Tote gegeben, die an oder mit Covid-19 gestorben sind. Die Unterscheidung zwischen "an" und "mit" ist ein wichtiger Aspekt, von dem gleich noch die Rede sein muss. In diesen zwei Tagen sind auch 1499 Patienten genesen, und das lässt die Italiener ein bisschen hoffen. Die Zahl der Neuerkrankungen stieg nach einer leichten Verbesserung wieder stark an: um 4480 in 24 Stunden. Auch das ist ein bisheriger Höchstwert. Die Experten sagen, er liege im Trend, beruhigend wirkt die Beteuerung aber nicht. Doch auf die Stimmung im Volk, das seit zehn Tagen in verordneter Kollektivisolation auf bessere Nachrichten harrt, drücken die tragischen Todeszahlen natürlich. In Bergamo haben Armee-Transporter Leichen weggebracht, weil es auf den Friedhöfen der Stadt keinen Platz mehr für sie gab - mitten in der Nacht.

Das Fernsehen zeigte Bilder eines langen Konvois von Militärlastwagen. Das Istituto Superiore di Sanità, Italiens oberstes Gesundheitsinstitut, hat nun eine Studie vorgelegt, in der es alle klinischen Daten der Opfer analysiert hat. Folgende Erkenntnisse und Mittelwerte kamen heraus: Das durchschnittliche Alter der Verstorbenen liegt bei 79,5 Jahren. Die deutlich am stärksten betroffene Altersgruppe sind die 80- bis 89-Jährigen. Nur fünf Menschen waren unter 40 Jahre, alle waren krank, ehe sie sich mit dem Virus infizierten. 70 Prozent der Opfer sind Männer. Drei Personen (0,09 Prozent) starben offenbar ausschließlich "am" Coronavirus - "ohne wenn und aber", wie die Italiener sagen. Alle anderen litten an mindestens einer schweren Vorerkrankung. Die Hälfte hatte drei oder mehr Krankheiten, die häufigsten waren: Bluthochdruck, Diabetes, Krebs, Herz- und Atembeschwerden.

Das Gesundheitsinstitut führt auch auf, mit welchen Leiden die Menschen eingeliefert wurden. 77 Prozent hatten hohes Fieber, 74 Prozent litten an Dyspnoe, also Atemnot, und 42 Prozent klagten vor allem über Husten. Auch über die durchschnittliche Verlaufszeit der Krankheit in den tödlichen Fällen lässt sich mittlerweile etwas sagen: Vom Augenblick der ersten Symptome und dem positiven Test bis zur Verlegung ins Krankenhaus vergehen normalerweise rund vier Tage, bis zum Tod auf der Intensivstation noch einmal vier.

Viele Diskussionen ranken sich auch um die angeblich hohe Sterblichkeitsrate in Italien, und tatsächlich: Die Zahl der bekannten Virusträger liegt bisher bei etwa 41 000, die Zahl der Todesfälle bei 3405. Das entspricht einer Rate von dramatischen 8,3 Prozent. Doch ist diese Rate realistisch? Experten denken, dass es in Italien sehr viel mehr Infizierte gibt als es offizielle Statistiken ausweisen - viele von ihnen haben keine Symptome oder nur leichte wie bei einer Grippe. Von der Dunkelziffer der "Geisterträger" von Corona, wie man sie nennt, hängt die Sterblichkeitsquote sehr wesentlich ab. Glaubt man den Fachleuten, liegt die wahre Rate nicht bei acht, sondern bei einem bis drei Prozent. Drei Prozent wären vergleichsweise hoch, doch Sars-CoV-2 gilt nun mal als besonders aggressiver Erreger.

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Ungewiss ist auch, ob die Entwicklung in Italien so eigentümlich ist, wie man nun zu glauben scheint. Das Land ist den Nachbarn ungefähr zwei Wochen voraus, in allem, wohl auch beim Verlauf der Epidemie. Ähnlich verläuft die Dynamik nun aber in Spanien, wo die Fallzahl zuletzt stark stieg, sowie in Frankreich, den USA, Deutschland und der Schweiz. Ein Vergleich ist wohl erst in einigen Wochen möglich.

Trotzdem fragen sich die Italiener natürlich, warum es gerade sie zuerst und so stark traf. Auch dazu gibt es viele Thesen und Erzählungen, die vielleicht nur so lange Bestand haben, bis Vergleichswerte aus anderen Ländern vorliegen. Grund eins ist demografisch: Italiens Bevölkerung gehört zu den betagtesten der Welt, das Durchschnittsalter liegt bei 46,3 Jahren. Fast 14 Millionen Italiener sind über 65 Jahre alt.

Grund zwei: Das "Epizentrum" der Ausbreitung umfasst jene drei Regionen im Norden, alle in der Po-Ebene, die das wirtschaftliche und industrielle Herz des Landes bilden, die Lombardei, Venetien und die Emilia-Romagna. Nirgendwo in Europa ist die Luftverschmutzung größer. Viele ältere Bewohner leiden an Atemwegsbeschwerden. Und die Bevölkerungsdichte ist hoch: Ungefähr 40 Prozent der Italiener leben dort. Ein gefährlicher Mix. Zoomt man die besonders betroffenen Gebiete näher heran, rücken die Städte Lodi, Brescia und Bergamo ins Zentrum, letztere kämpfen mit schwindenden Kräften gegen die Katastrophe. Nur Mailand und Provinz blieben bisher relativ verschont, und weil in der Metropolregion drei Millionen Menschen eng an eng leben, ist es von zentraler Bedeutung, dass das so bleibt. Motiv drei: Italien ist durchaus zurecht stolz auf sein öffentliches, allen zugängliches Gesundheitswesen. Nur wurde es in der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise radikal zusammengespart. Der hochverschuldete Staat hat Forschungszuschüsse im vergangenen Jahrzehnt um 21 Prozent gekürzt und viele brillante Wissenschaftler ans Ausland verloren. Die Corona-Krise traf das System im ungünstigsten Moment. Motiv vier: Italien war das erste Land, das Flüge aus und nach China verbot. Die Maßnahme war nicht durchdacht: So reisten Passagiere aus China über Paris, Frankfurt und Zürich nach Italien ein, ungetestet.

Dennoch wächst die Popularität der Regierung rasend. Premier Giuseppe Conte, der sich vor der Epidemie nur mühsam im Amt hielt, steht nun nach einer Umfrage von La Repubblica bei 71 Prozent Gunst im Volk, das gab es seit vielen Jahren nicht. Die befragten Italiener finden die drastischen Einschränkungen des öffentlichen Lebens richtig: 94 Prozent begrüßen sie. 80 Prozent meinen, Italien gehe besser mit der Krise um als alle anderen Länder Europas. Besorgt sind indes fast alle: 65 Prozent "sehr", 30 Prozent "ziemlich".

Das erklärt wohl, warum die allermeisten Italiener diszipliniert die Vorgaben einhalten. Wer es nicht tut, dem drohen nun härtere Strafen. Rom erwägt, die Armee weiter zu mobilisieren, um Vorschriften durchzusetzen. 7000 Soldaten sind schon in den Straßen. Viel hängt davon ab, wie lange die Italiener den Hausarrest erdulden. Der 3. April, der mal als Tag der Befreiung galt, ist schon Makulatur.

© SZ vom 20.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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