Süddeutsche Zeitung

Italien:"Wir müssen durchhalten"

Lesezeit: 4 min

Von Oliver Meiler, Rom

Diese tragischen Zahlen, sie gehen einfach nicht runter. Jeden Abend um 18 Uhr setzen sich die Italiener vor den Fernseher und hören sich mit banger Erwartung das neue "Bollettino" an, das Bulletin mit den aktuellen Zahlen der Neuinfektionen und Todesfälle. Vorgelesen wird es jeweils von Angelo Borrelli, dem Chef des nationalen Zivilschutzes, einem ruhigen Mann im dunkelblauen Pullover. Und da Borrelli seit einem Monat Hiobsbotschaften verkünden muss, beginnt er jeden Abend mit der positivsten Zahl, die er in seiner Mappe trägt, jener der Genesenen. Sie wird allerdings jedes Mal mächtig überschattet von der dunklen Zahl, die er zum Schluss sagt.

Allein an diesem Wochenende kamen in Italien weitere 1444 Todesopfer hinzu. Eine so hohe Zahl in so kurzer Zeit hatte es in dieser Krise noch nie gegeben, zumindest nicht offiziell, nirgendwo auf der Welt.

"Bleibt bitte zuhause": Der Appell ist zum Refrain dieser Zeit geworden

Neben Borrelli sitzt meistens ein Mann, der den Italienern in den vergangenen Wochen auch vertraut wurde: Silvio Brusaferro, Präsident des obersten Gesundheitsinstituts des Landes. Der Norditaliener sagt dann jeweils, dass es sich bei den Opfern fast ausschließlich um betagte Menschen um die 80 Jahre mit multiplen Vorerkrankungen handle. Er ist Wissenschaftler und möchte immer nur die Entwicklung der Zahlen kommentieren, auch wenn ihn die Reporter nach Prognosen fragen. Doch an diesem Wochenende, angesichts der jüngsten Zahlen, öffnete sich auch Brusaferro ein bisschen und wurde persönlich. Hinter jeder Zahl, sagte er, stehe ein Mensch, ein Angehöriger, er selbst sorge sich auch sehr um seine Eltern. Um die gefährdetsten Mitglieder der Gesellschaft zu schützen, sei es wichtig, dass sich alle an die Verordnungen der Regierung hielten: "Bleibt bitte zu Hause", sagte er. Diesen Appell hört man überall, von Politikern, Sportlern, Moderatoren, er ist zum Refrain dieser Zeit geworden. Aber wenn der Aufruf von einem Wissenschaftler kommt, der sonst nüchtern redet, entfaltet er eine andere Dringlichkeit.

Aber ist das genug? Auch zwei Wochen, nachdem die Ausgangssperre verhängt worden ist, scheint der Höhepunkt der Krise noch lange nicht erreicht zu sein. Zivilschutzchef Borrelli hatte mal die Hypothese aufgestellt, dass am 25. März eine Trendwende einsetzen könnte. Nun hört man da und dort, dass der Höhepunkt wohl noch zwei Wochen weg sei.

Aus diesem Grund hat Italiens Premier Giuseppe Conte nun noch drastischere Maßnahmen beschlossen, um möglichst viele Bürger am Verlassen ihrer Häuser und Wohnungen zu hindern - auch die Arbeiter. "Wir bremsen den ganzen Produktionsmotor des Landes", sagte Conte in einer Fernsehansprache am späten Samstagabend. "Aber wir stellen ihn nicht ganz ab." Vorerst bis 3. April werden alle Fabriken, Unternehmen und Ämter geschlossen, deren Produkte und Dienstleistungen nicht notwendig sind für das Funktionieren der Gesellschaft. Conte zufolge bleiben nur Branchen offen, die "nötig" und "wesentlich" sind: Lebensmittel, Energie, Pharmaka, Transport, Textilien für Arbeitskleidung. Die Liste erarbeitete er mit Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, auch die Lotterie wurde ausgesetzt.

Natürlich fürchtet man sich vor den Folgen dieser Entscheidung, zunächst vor allem vor den wirtschaftlichen. Der Chef der Mailänder Industriellen, Carlo Bonomi, sprach von einer "Kriegswirtschaft". Viele Firmen würden danach wahrscheinlich nie mehr öffnen. Potenziell gefährlich ist die Schließung der Fabriken im Norden auch deshalb, weil nun noch mehr Süditaliener versucht sein könnten, in die Heimat zu fahren. Dadurch könnte sich das Virus im bisher einigermaßen bewahrten, aber im Gesundheitswesen höchst fragilen Mezzogiorno weiter ausbreiten.

Die Regierung beschloss deshalb, alle Reisen im Land zu untersagen, die nicht dringend nötig sind.

Viele sind noch draußen, damit das Leben auch für alle drinnen weitergeht

Der Schritt sei leider notwendig, sagte Conte. "Das ist unsere größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg." Man befinde sich jetzt in der akutesten Phase überhaupt. "Unser Opfer ist minimal im Vergleich zu dem unserer Mitbürger, der Ärzte und Pfleger in den Krankenhäusern, der Angestellten in den Supermärkten, der Apotheker, der Kuriere und der Sicherheitskräfte." Von all jenen also, die noch draußen sind, damit das Leben auch für alle drinnen weitergeht.

Manche Regionen und Städte gehen unterdessen noch weiter bei der Einschränkung der Bewegungsfreiheit, vor allem in der am stärksten betroffenen Gegend, der Lombardei. Eine regionale Verfügung untersagt nun das Joggen im Freien, auch allein darf man nicht mehr raus zum Sportmachen. Attilio Fontana, der Gouverneur der Lombardei, klagte zuletzt oft über Bürger, die das Recht auf "motorische Aktivitäten" als Einladung verstanden, Straßen und Parks zu bevölkern. Wer sich nicht an die Regel hält, dem droht eine Geldstrafe von 5000 Euro. In der Lombardei sind nun auch Baustellen und öffentliche Ämter geschlossen, außer der Müllabfuhr und ähnlich unabdingbarer Dienste. Am Eingang jedes Supermarkts wird den Kunden Fieber gemessen. Nach dem Einkaufen im nächstgelegenen Laden soll man sofort wieder nach Hause. Wird man von der Polizei kontrolliert, muss man den Kassenzettel zeigen, und darauf steht die Uhrzeit. So lässt sich leicht nachweisen, ob jemand das Einkaufen für einen längeren Ausflug nutzt.

Venetien und das Piemont erließen ähnliche Verordnungen. Die Emilia Romagna, die manche Verschärfung bereits vorweggenommen hatte, ließ nun unter anderem auch die Strandpromenaden von Rimini und Riccione sperren - so leer hat man sie noch nie gesehen. Auch Roms Stadtregierung untersagte das Spazieren an den Küsten von Ostia, wo bisher viele am Wochenende etwas Luft schnappten, mit gebührendem Abstand zu den Nächsten. In Rom wird nun auch fast jedes Auto angehalten: Nur wer auch tatsächlich einen triftigen Grund hat, unterwegs zu sein, darf weiterfahren.

In seiner Ansprache sagte Giuseppe Conte, er habe von Beginn an immer in totaler Transparenz kommuniziert, nie habe er beschönigt oder kleingeredet. "Es braucht Zeit, bis diese Maßnahmen greifen, aber es gibt keine Alternative dazu - wir müssen durchhalten." Auch moralisch, Bulletin um Bulletin.

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SZ vom 23.03.2020
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