Aus der Stille der italienischen Städte steigt ein Chor, ein Konzert, ein herzerwärmendes Lebenszeichen. Alle paar Stunden, irgendwo im Land, treten Menschen aus der Isolation, die ihnen die Regierung wegen der Verbreitung des Coronavirus verordnet hat, heraus. Sie stellen sich auf ihre Balkone oder an ihre Fenster und stimmen in Lieder ein, alle miteinander, über Straßen und Piazze hinweg, manchmal begleitet von improvisierten Schlagzeugern, die sich mit Pfannen behelfen, mal von Trompetern zweifelhafter Güte, mal von richtig guten Tenören und Gitarrenspielern. Jeder mit seinem Talent.
In Monteverde, einem Quartier Roms, hat sich am Freitagabend um 18 Uhr, zur im Netz ausgemachten Zeit, ein junger Mann mit Mischpult und Verstärker auf das Dach seines Wohnblocks gestellt, DJ für einige Minuten, und die Nationalhymne abgespielt, die Hymne Goffredo Mamelis: "Fratelli d'Italia". Und bald sangen alle mit, das ganze Viertel.
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Wenn es zählt, ist Italien immer eine Gemeinschaft, eine Schicksalsgemeinschaft. Und kreativ. Die Zeitung La Repubblica schreibt von "kollektivem Exorzismus". Das Virus ist der Teufel, man will auch die Angst davor austreiben. Gemeinsam, als ließe sie sich wegsingen.
Die Idee für die Balkonkonzerte kam einer römischen Straßenband, die sich FanfaRoma nennt. Sie schrieb auf ihrer Facebookseite: "Öffnen wir die Fenster, zeigen wir uns auf unseren Balkonen, und stimmen wir alle zusammen ein, auch wenn wir weit voneinander entfernt sind." Der Appell ging schnell viral, es gab bald Dutzende Initiativen, überall im Land. Spätestens nach einer Woche freut man sich in der Quarantäne über alles Zwischenmenschliche, über etwas Austausch - sei es auch auf Distanz. In Neapel sangen sie "Abbracciame", "Umarme mich", ein Lied des Neomelodikers Andrea Sannino, voller Herzdrama, voller Schmalz. In Crotone ertönte "Nel blu dipinto di blu" von Domenico Modugno, das die Welt als "Volare!" kennt, so etwas wie die italienische Paradehymne auf die Lebensfreude.
Für Samstagmittag um genau 12 Uhr, diesmal national, erging der Aufruf an alle zu einer Ovation, einem langen Beifall, für alle Ärzte und Pfleger, die vor allem in den Hospitälern im Norden des Landes unter dramatischen Bedingungen die Erkrankten behandeln. Es werden immer mehr, Italien zählt schon über 17 000 Infizierte. Und so standen überall in Italien Menschen auf ihren Balkonen und zollten dem medizinischem Personal ihren Respekt.
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Überhaupt: die Solidarität. Die Zeitungen berichten von kleinen und größeren Hilfsgesten unter Bürgern, die das Geschäftsmodell der Berufszyniker zerzaust. Von jungen Menschen etwa, die unten auf der Pinnwand im Eingang der Wohnhäuser anbieten, für alle Bewohner die Besorgungen im Supermarkt zu machen und die Tüten dann vor die Haustüren zu legen - "social distancing", aber mit Herz.
Fast niemand glaubt mehr an eine Alternative zur Einfrierung des öffentlichen Lebens
Die allermeisten Italiener halten sich an die Verordnungen, und die, die es nicht tun, werden von der Polizei dazu angehalten. Die Disziplin spiegelt sich auch in der jüngsten Umfrage des Corriere della Sera: 62 Prozent der befragten Italiener sagten, sie hielten die Maßnahmen ihrer Regierung für richtig und effizient. 25 Prozent finden, sie müssten noch drastischer sein. Fast niemand glaubt mehr, dass es eine Alternative gibt zur Einfrierung des öffentlichen Lebens, zur Quasi-Totalblockade. Mit Verwunderung schaut man in die Nachbarländer im Norden, wo man nun schon nach den Schulschließungen von "Lockdown" spricht.
In dieses kompakte und selbstmotivierende Gefühl, in der Not richtig zu reagieren, platzten diese Woche die Worte von Christine Lagarde, der Chefin der Europäischen Zentralbank. Als die Französin erklärte, wie die EZB die absehbare Wirtschaftskrise abfedern möchte, sagte sie unter anderem auch, es sei nicht an ihrem Institut, den Spread, die Zinsdifferenz zwischen den deutschen und den italienischen Staatsanleihen, auszugleichen - oder anders: Wenn Italien Probleme habe wegen seiner hohen Schuldenlast, sei das nicht ihr Problem. Der Spread stieg darauf schnell auf 260 Punkte, so hoch war er schon lange nicht mehr, und die Mailänder Börse erlitt den größten Einbruch in ihrer Geschichte: minus 16,9 Prozent. In Italien sprach man daraufhin von einer "Gaffe" Lagardes. Das Wort ist aus dem Französischen entlehnt, es bezeichnet einen Patzer, einen Fauxpas. Aber war es das auch?
Lagarde war wohl daran gelegen, sich von ihrem Vorgänger abzusetzen, dem Italiener Mario Draghi. Mit seiner Devise "Whatever it takes" hatte Draghi in der Finanz- und Wirtschaftskrise nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass Italien auch in sehr komplizierten Zeiten an Kredite kam.
Lagardes Spitze empfanden die Italiener nun als unsensibel, ja als unerhört, zeitlich völlig deplatziert, und zwar quer durch das politische Spektrum. Im rechtssouveränistischen Lager war die Empörung natürlich am größten, dort verpasst man keine Gelegenheit, sich an Europa und seinen Institutionen zu reiben. "Wir baten um Hilfe und wurden geohrfeigt", sagte zum Beispiel Oppositionschef Matteo Salvini von der Lega. Auch Staatspräsident Sergio Mattarella klagte laut, und das kommt nun wirklich selten vor: Italien erwarte aus Europa jetzt Solidarität und keine Hürden, schrieb er in einer Protestnote.
Es braucht nicht viel, und Italien fühlt sich wieder allein gelassen wie während der Jahre der großen Migrationswellen über das zentrale Mittelmeer. Damals profitierte Salvini.
In Brüssel verstand man schnell, diesmal schon. Ursula von der Leyen korrigierte Lagardes "Gaffe" mit einem Bekenntnis, das die Gemüter besänftigte: "Italien erhält, was es braucht", sagte die EU-Kommissionspräsidentin. Und das klang ein bisschen wie Draghis "Whatever it takes".