Süddeutsche Zeitung

Häusliche Gewalt in der Corona-Krise:Wenn das Kind verborgen bleibt

Lesezeit: 5 min

Von Arne Hell, Lena Kampf, Martin Kaul und Camilla Kohrs, München

Zu Beginn der Corona-Maßnahmen war die Sorge um Kinder in belasteten Familien groß: Kinderschutzorganisationen, die Familienministerin, selbst der Europarat äußerten die Befürchtung, dass Gewalt gegen Kinder in erheblichem Maße zunehmen würde, wenn alle zu Hause zusammenhocken.

Etwa 550 Jugendämter bundesweit tragen die Wächterfunktion über das Kindeswohl in Deutschland. Mithilfe der von ihnen beauftragten freien Träger der Jugendhilfe, Kitas und Schulen haben sie ein feines Netz gesponnen, damit auffällt, wenn Kinder in ihren Familien körperlicher, sexualisierter oder psychischer Gewalt ausgesetzt sind. Doch was passiert, wenn dieses Netz zu grobmaschig wird, weil Kitas, Schulen und andere Einrichtungen geschlossen sind?

Derzeit etwa 15 Prozent weniger Gefährdungsmeldungen

Ein Team von SZ und WDR hat Hunderte Jugendämter in ganz Deutschland dazu befragt, wie viele der sogenannten Kinderschutzmeldungen sie im Zeitraum von Mitte März bis Mitte April erhalten haben. Insgesamt haben 231 Jugendämter auf die Umfrage geantwortet. Die Tendenz: 43 Prozent gaben in der Selbsteinschätzung an, die Anzahl der Meldungen sei in den ersten vier Wochen nach Beginn der Kontaktverbote rückläufig oder stark rückläufig gewesen. Erstmals liegen damit Näherungswerte vor, auch wenn diese Zahlen nicht nach streng wissenschaftlichen Kriterien erhoben wurden.

Zum Teil bezogen sich die Jugendämter auf den Jahresdurchschnitt, andere auf den Vergleichszeitraum aus vorherigen Jahren, zudem gibt es auch in anderen Jahren Schwankungen im zweistelligen Bereich. Die beteiligten Jugendämter verzeichnen demnach etwa 15 Prozent weniger Gefährdungsmeldungen als vor Beginn der Corona-Maßnahmen. Bei einigen halbierten sich sogar die Meldungen. Nur elf Prozent der Jugendämter bekamen mehr.

Ist die erwartete Welle von häuslicher Gewalt also ausgeblieben? Oder wird sie nicht wahrgenommen, weil momentan niemand mehr so genau hinschauen kann? Für die Kinderschutzexpertin Kathinka Beckmann, Professorin an der Hochschule Koblenz, sind die rückläufigen Meldungen "gar kein gutes Zeichen, sondern besorgniserregend". Der Druck auf die Familien steige häufig enorm. Auch das Bundesfamilienministerium, das nach eigenen Angaben derzeit keine gesicherten Daten zur Entwicklung der Gefährdungsmeldungen hat, vermutet, dass sich die Dunkelziffer vergrößert hat.

"Auch angesichts dieser Zahlen dürfen wir uns nicht in Sicherheit wiegen", sagte eine Sprecherin zu den Ergebnissen der Recherche von SZ und WDR. "Risiko- und Notlagen von Kindern werden angesichts der weitgehenden Schließung von Kitas und Schulen viel schwerer sichtbar." Außerdem habe sich die Nachfrage bei Sorgentelefonen oder der Chatberatung von Jugendlichen teils um mehr als 20 Prozent erhöht.

Vom Hochbett gefallen

Ihr Sohn sei vom Hochbett gefallen, sagt die Mutter des Fünfjährigen, als sie am 21. April in Mönchengladbach den Notarzt ruft, weil ihr Kind nicht mehr atmet. Der Arzt stellt jedoch fest, dass die Verletzungen des Kindes nicht zu einem Sturz passen. Mutter und Lebensgefährte werden festgenommen, gegen sie wird wegen Totschlags und Totschlags durch Unterlassen ermittelt.

Nach Informationen von SZ und WDR hatte es Anfang März noch ein Gespräch zwischen Mitarbeitern des Jugendamts und dem Lebensgefährten der Mutter gegeben. Erzieherinnen in der Kita waren blaue Flecke und Griffspuren an seinem Arm aufgefallen. Der Lebensgefährte begründete diese laut Staatsanwaltschaft damit, dass der Junge tollpatschig sei und oft hinfallen würde.

Zwar hatte das Jugendamt den Eltern noch Hilfsangebote unterbreitet - diese aber hatten abgelehnt. Nachdem eine Woche später die Kita schloss, bekam kaum jemand den Jungen zu Gesicht. Auch das Jugendamt nicht. Nach Aktenlage hatte das Amt keine weiteren Aktivitäten in dem Fall entwickelt. Weder wurden die Verletzungen rechtsmedizinisch überprüft, noch der Familie Auflagen erteilt - etwa das Kind in die Kita-Notbetreuung zu schicken. Das Amt wollte sich aufgrund des laufenden Verfahrens nicht äußern.

Die Umfrage von SZ und WDR zeigt die großen Herausforderungen, vor denen Jugendämter durch die Einschränkungen im Zuge der Corona-Pandemie stehen. Die Ämter reagieren ganz unterschiedlich auf die Situation. Schutz der Mitarbeiter und Familien vor Ansteckung und fehlende Schutzausrüstung führten bei vielen Jugendämtern zu einer fortwährenden Abwägung, ob Hausbesuche weiter durchgeführt werden müssen oder Telefonate ausreichen. Vielerorts mussten sich die Ämter jedoch Ausrüstung für Videochats erst einmal beschaffen.

Zahlreiche Ämter gaben an, derzeit an den Grenzen ihrer Belastbarkeit zu arbeiten und wiesen auf die Unsicherheit hin, die durch häufig wechselnde Verordnungen und die unterschiedlichen Regelungen der Bundesländer entstünden. In mindestens 54 Fällen war es zu Beginn der Maßnahmen nach Angaben verschiedener Jugendämter sogar dazu gekommen, dass etwa Wohngruppen gefährdete Kinder wieder nach Hause geschickt haben - ohne dass sich deren Gefährdungssituation geändert hatte und ohne Rücksprache mit den Jugendämtern. Im Rhein-Neckar-Kreis gab es einen Corona-Ausbruch in einer stationären Einrichtung, woraufhin Kinder beurlaubt wurden.

"Der Hammer kommt, wenn die Schulen und Kitas wieder aufmachen."

Oftmals nutzten auch Eltern die Kontaktbeschränkungen als Ausrede, die Maßnahmen abzubrechen. In Goslar mussten Hausbesuche durch das Familiengericht durchgesetzt werden. Dort verweigerte eine Familie den Mitarbeitern eines Jugendhilfe-Trägers den Zutritt. Doch auch die Familiengerichte bearbeiten nach Erfahrung einiger Jugendämter die Kinderschutzverfahren trotz gegenteiliger Erklärung nicht immer konsequent, wodurch es zu Verzögerungen gekommen sei.

Zudem ist in manchen Kommunen die Finanzierung der sogenannten freien Träger durch die Corona-Krise ins Wanken geraten. Insbesondere in klammen Kommunen, so befürchten viele Jugendämter, könnten sich Finanzinteressen durchsetzen - zu Lasten der Träger, die nach der Wiederöffnung der Schulen besonders wichtig werden könnten. Ob und für welche Leistungen Träger vergütet werden, ist überall unterschiedlich geregelt und häufig offenbar noch vom Wohlwollen der lokalen Behörden abhängig. Zum Teil könne dies auch "erst im Nachhinein ermittelt werden", heißt es von der Stadt Aachen.

Dort wurde gleich zu Beginn der Corona-Kontaktbeschränkungen zahlreichen Trägern der Jugendhilfe mitgeteilt, dass bestimmte Leistungen künftig nicht mehr vergütet würden, zum Beispiel die Kosten für die Schulbetreuer von seelisch und geistig behinderten Kindern oder die Telefonate, die anstelle von Hausbesuchen geführt wurden. Inzwischen hat die Stadt diesen Kurs zwar teilweise korrigiert, Vereine und Träger machen sich dennoch Sorgen um ihre Zukunft.

SZ und WDR haben zusätzlich zur Umfrage unter den Jugendämtern mit mehr als 40 dieser freien Träger aus ganz Deutschland gesprochen. Sie betreuen Familien und Kinder im Auftrag der Ämter und haben - oftmals anonym - über ihre Arbeit während der Corona-Maßnahmen und den Umgang der Jugendämter berichtet. Neben der unsicheren Finanzierung klagen einige darüber, dass die Arbeitsbelastung hoch sei. In Süddeutschland werfen zwei Träger Jugendämtern sogar vor, nicht auf ihre Meldungen reagiert zu haben. In beiden Fällen meldeten die Betreuer, dass sie eine Kindeswohlgefährdung befürchten, die Ämter schickten den Trägern zufolge jedoch keine Mitarbeiter, wie sonst üblich, zu den Familien - angeblich wegen der Infektionsgefahr.

Andere Träger äußerten sich positiv über die Ämter - es werde alles daran gesetzt, gemeinsam den Kontakt zu den Kindern zu halten. Die Betreuer gehen mit Familien spazieren oder vergewissern sich am Fenster oder Balkon, dass es den Kindern gut geht. Viele betreiben stationäre Einrichtungen für Kinder, die nicht bei ihren Eltern leben können. Eine Mitarbeiterin von "Kindeswohl-Berlin" beispielsweise schloss sich ganze zwei Wochen allein mit neun Kindern ein, als eines als Covid-19-Verdachtsfall galt und deswegen alle in Quarantäne mussten.

Die Kinder in ihre schwierigen Verhältnisse nach Hause zu schicken, das war keine Option. "Sie brauchen uns gerade jetzt dringend", sagt Susanne Ferjani, die Geschäftsführerin. Auch in der ambulanten Betreuung würden die Familien von ihren Mitarbeiterinnen weiter besucht, sagt sie. Mit Desinfektionsspray und Mundschutz. Dennoch machten sich alle Gedanken, etwas zu übersehen. "Der Hammer kommt, wenn die Schulen und Kitas wieder aufmachen. Erst dann wird sichtbar, was für uns in den vergangenen Wochen verborgen blieb."

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Quelle:
SZ vom 07.05.2020
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