Coronavirus in Großbritannien:Johnsons Fahrplan ins Chaos

Die Regierung von Boris Johnson agiert in der Pandemie widersprüchlich und unkoordiniert. Dadurch werden die sozialen Brüche im Land brutal sichtbar. Bestimmte Gruppen werden von dem Coronavirus härter getroffen.

Kommentar von Cathrin Kahlweit, London

Boris Johnson schafft es mittlerweile, selbst eingefleischte Fans zu enttäuschen: seine Fraktion, die ihn nach seinem furiosen Wahlsieg auf Händen trug, jetzt aber ein schnelleres Ende des Lockdowns fordert. Fast alle konservativen Medien, die dem neuen Mann mit Wohlwollen, bisweilen mit Devotheit begegneten, und nun vom Kommunikationschaos in Downing Street überrollt werden.

Die Linke zumal, die zu Beginn der Krise noch gewillt war, im Rahmen eines Konsenses der Vernunft mit ihm zusammenzuarbeiten, aber immer noch auf klare Ansagen wartet. Wissenschaftler, die sich benutzt fühlen und der Regierung mangelnde Glaubwürdigkeit vorwerfen. Das Kabinett, das übergangen wird. Wales, Schottland und Nordirland, die gern mit England kooperieren würden, aber von Beschlüssen aus der Zeitung erfahren.

Die Bürger, last not least, wissen kaum noch, was gelten soll - sie machen im Wesentlichen, was sie wollen. Manche sind ängstlich und bleiben daheim, viele sagen: Die da oben wissen doch sowieso nicht, was sie tun. Johnsons Umfragewerte in der Krise waren lange gut. Aber die Zweifel wachsen. Kein Wunder.

Die lange erwartete Rede an die Nation, die Johnson am Sonntag hielt, sollte erklären, zusammenführen, Hoffnung bieten, zur Vorsicht mahnen, trauern und befeuern gleichzeitig. Denn die Zahl der Toten und Infizierten im Königreich steigt, wenn auch langsamer, weiter, und die wesentlichen Probleme im Umgang mit der Krise sind nicht einmal im Ansatz gelöst. Aber der Premierminister schaffte es nicht, eine klare Botschaft zu überbringen.

Tennis ja, aber nur im Familienverband? Reisen an touristische Spots, aber nicht zur Oma? Zwangsquarantäne für Einreisende ins Vereinigte Königreich, aber nicht für Franzosen? Das soll verstehen, wer will; viele Briten blieben ratlos zurück, die Zeitung Metro fasst die Stimmung mit einer Anspielung auf die gern zur Schau gestellte klassische Bildung des Premiers zusammen: "It's all greek to us".

Soziale Ungleichheit als Nährboden für das Virus

Tragisch für das Land ist aber nicht nur, dass eine in administrativen Dingen unerfahrene und nach ideologischen Aspekten zusammengestellte Truppe von Ministern - trotz erkennbarer Anstrengung und gutem Willen - den Kampf gegen das Virus so fahrig führt und so schlecht koordiniert. Sondern tragisch ist auch, dass diese Krise einige grundlegende Wahrheiten nach oben spült, die in zehn Jahren Austeritätspolitik, Brexit-Begeisterung und zunehmend feindseliger Politik gegenüber Migranten viel zu lange verdrängt wurden: Das Vereinigte Königreich ist auch deshalb ein guter Nährboden für die Pandemie, weil die wirtschaftliche und soziale Ungleichheit massiv zugenommen hat. In Städten, wo besonders viele Arme, Kranke, sozial Schwache leben, ist die Todesrate durch Corona doppelt so hoch wie in reicheren Regionen. Viermal so viele Menschen, die einer ethnischen Minderheit angehören, sterben am Virus als weiße Briten.

Nach der Pandemie wird das große Abrechnen beginnen

Es gibt viele Indikatoren dafür, dass die gesellschaftlichen Bruchlinien tiefer werden. Die Lebenserwartung stagniert, für Frauen, die in Armut leben, ist sie in Großbritannien sogar gesunken. Die Kindersterblichkeit ist gestiegen. Ein UN-Berichterstatter hat, von der Regierung empört zurückgewiesen, in einem Report die Not in Großbritannien in manchen Regionen als "extrem" und "tragisch", die Armut als "systemimmanent" bezeichnet.

Corona ist, anders als gern verbreitet, nicht der große Gleichmacher. Unlängst beklagte der Gesundheitsminister die unterschiedliche Lebenserwartung im Land und erklärte sie, unter anderem, mit "Genetik, Umwelteinflüssen und Lebensentscheidungen". Corona-Patienten haben sich allerdings nicht für die Infektion oder gar den Tod entschieden. Arme und Schwarze haben in diesem Kampf schlechtere Chancen.

Auch die Alten erleben mangelnde Fürsorge

Nach der Pandemie wird das große Abrechnen beginnen. Vielleicht werden sich dann, endlich, die konservativen Regierungen des vergangenen Jahrzehnts für ihre Politik erklären müssen, die Arm gegen Reich ausspielt.

Und noch eine Frage muss beantwortet werden. Mehr als einen Monat lang veröffentlichte Downing Street nur die Zahlen aus Krankenhäusern. Experten liefen Sturm, mittlerweile werden Todesfälle aus Heimen und aus den Kommunen addiert. Erst jetzt wird sichtbar, wie sehr diese Pandemie vor allem in Pflegeeinrichtungen wütet. Diese wurden wochenlang weitgehend ignoriert, dann vertröstet, und fühlen sich immer noch alleingelassen. Es sind nicht nur die Armen, es sind auch die Alten, die in dieser Krise mangelnde Fürsorge erleben. In Johnsons Rede kamen sie kaum vor.

Der Premier will jetzt also "wachsam bleiben" und erst in winzigen Schritten, bei permanenter Rücksprache mit Wissenschaftlern, den weiteren Kurs definieren. Das ist im Prinzip löblich. Aber es steht zu befürchten, dass Downing Street, um von Pannen und strukturellen Problemen abzulenken, die Lage weiter schönt. Keine Gefahr wäre größer.

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