Boris Johnson schafft es mittlerweile, selbst eingefleischte Fans zu enttäuschen: seine Fraktion, die ihn nach seinem furiosen Wahlsieg auf Händen trug, jetzt aber ein schnelleres Ende des Lockdowns fordert. Fast alle konservativen Medien, die dem neuen Mann mit Wohlwollen, bisweilen mit Devotheit begegneten, und nun vom Kommunikationschaos in Downing Street überrollt werden.
Die Linke zumal, die zu Beginn der Krise noch gewillt war, im Rahmen eines Konsenses der Vernunft mit ihm zusammenzuarbeiten, aber immer noch auf klare Ansagen wartet. Wissenschaftler, die sich benutzt fühlen und der Regierung mangelnde Glaubwürdigkeit vorwerfen. Das Kabinett, das übergangen wird. Wales, Schottland und Nordirland, die gern mit England kooperieren würden, aber von Beschlüssen aus der Zeitung erfahren.
Die Bürger, last not least, wissen kaum noch, was gelten soll - sie machen im Wesentlichen, was sie wollen. Manche sind ängstlich und bleiben daheim, viele sagen: Die da oben wissen doch sowieso nicht, was sie tun. Johnsons Umfragewerte in der Krise waren lange gut. Aber die Zweifel wachsen. Kein Wunder.
Die lange erwartete Rede an die Nation, die Johnson am Sonntag hielt, sollte erklären, zusammenführen, Hoffnung bieten, zur Vorsicht mahnen, trauern und befeuern gleichzeitig. Denn die Zahl der Toten und Infizierten im Königreich steigt, wenn auch langsamer, weiter, und die wesentlichen Probleme im Umgang mit der Krise sind nicht einmal im Ansatz gelöst. Aber der Premierminister schaffte es nicht, eine klare Botschaft zu überbringen.
Tennis ja, aber nur im Familienverband? Reisen an touristische Spots, aber nicht zur Oma? Zwangsquarantäne für Einreisende ins Vereinigte Königreich, aber nicht für Franzosen? Das soll verstehen, wer will; viele Briten blieben ratlos zurück, die Zeitung Metro fasst die Stimmung mit einer Anspielung auf die gern zur Schau gestellte klassische Bildung des Premiers zusammen: "It's all greek to us".
Soziale Ungleichheit als Nährboden für das Virus
Tragisch für das Land ist aber nicht nur, dass eine in administrativen Dingen unerfahrene und nach ideologischen Aspekten zusammengestellte Truppe von Ministern - trotz erkennbarer Anstrengung und gutem Willen - den Kampf gegen das Virus so fahrig führt und so schlecht koordiniert. Sondern tragisch ist auch, dass diese Krise einige grundlegende Wahrheiten nach oben spült, die in zehn Jahren Austeritätspolitik, Brexit-Begeisterung und zunehmend feindseliger Politik gegenüber Migranten viel zu lange verdrängt wurden: Das Vereinigte Königreich ist auch deshalb ein guter Nährboden für die Pandemie, weil die wirtschaftliche und soziale Ungleichheit massiv zugenommen hat. In Städten, wo besonders viele Arme, Kranke, sozial Schwache leben, ist die Todesrate durch Corona doppelt so hoch wie in reicheren Regionen. Viermal so viele Menschen, die einer ethnischen Minderheit angehören, sterben am Virus als weiße Briten.