Corona-Verdacht in Flüchtlingsheimen:"Die Leute waren praktisch eingesperrt"

Wegen Unruhen nach Coronafall: Polizei verlegt Flüchtlinge

Als die Erstaufnahmeeinrichtung in Suhl unter Quarantäne gestellt wurde, kam es unter den Geflüchteten zu Unruhen.

(Foto: WichmannTV/dpa)

Abstand halten, soziale Kontakte vermeiden - in Unterkünften mit Hunderten von Geflüchteten ist das unmöglich. Die Corona-Krise stellt Bewohner und Helfer vor extreme Herausforderungen. Einheitliche Notfallpläne gibt es nicht.

Von Antonie Rietzschel, Leipzig

"Hamsterkäufe" - das Wort hat Pouria Zahedi noch nie gehört. Der 19-Jährige ist vor anderthalb Jahren aus Iran geflohen. Sein Weg führte ihn über die Türkei nach Griechenland, Nordmazedonien, Serbien und Polen. Erst vor wenigen Wochen kam er nach Deutschland, wo jetzt in Zeiten der Corona-Krise Kartoffeln, Reis und Klopapier gehortet werden. Bei seinem letzten Supermarktbesuch hat sich Zahedi Marmorkuchen gekauft, Kaffee - und eine Knoblauchzehe. Sie soll gegen das Coronavirus helfen. Ein falsches Gerücht, aber er glaubt daran: "Knoblauch desinfiziert den Körper von innen."

Der junge Mann lebt in der Thüringer Erstaufnahmeeinrichtung am Rande von Suhl. Vor Kurzem stand die gesamte Unterkunft unter Quarantäne, weil sich einer der Bewohner mit Corona infiziert hatte. Für Pouria Zahedi und die anderen Geflüchteten galt eine Ausgangssperre. Wer spazieren gehen wollte, kam nicht weiter als bis zu dem Metallzaun, der die alte Kaserne der ehemaligen DDR-Grenztruppen umgibt. Vergangenen Freitag, um Mitternacht, hob der Betreiber der Unterkunft, das Landesverwaltungsamt, die Quarantäne auf. Zwar gibt es keine Neuinfektion, aber die Angst, sich anzustecken, ist geblieben.

"Abstand halten ist schwierig"

48 Geflüchtete in zehn Bundesländern sind laut Innenministerium mit dem Coronavirus infiziert. Betroffen sind vor allem die Erstaufnahmeeinrichtungen. Während derzeit selbst kleinere Menschenansammlungen verboten und Schulen geschlossen sind, leben dort Menschen auf engstem Raum zusammen. In Suhl sind es mehr als 500. Die Erstaufnahmeeinrichtung ist in mehrere Wohnblocks aufgeteilt, Familien und Frauen sowie alleinstehende Männer leben getrennt. Zahedi teilt sich das kleine Zimmer mit einem Iraner. Dusche und Toiletten sind auf dem Gang. "Abstand halten ist schwierig."

In Zeiten der Corona-Krise hat das Bundesinnenministerium die Bundesländer angewiesen, neu ankommende Flüchtlinge auf das Virus testen zu lassen und im Zweifel zu separieren. So geschah es auch in Suhl. Mitarbeiter der Unterkunft versichern, der auf das Coronavirus positiv getestete Afghane sei im medizinischen Bereich der Unterkunft isoliert untergebracht gewesen. Trotzdem ordnete die Amtsärztin eine 14-tägige Massenquarantäne an. Eine drastische Maßnahme, die Dirk Adams mit einer gewissen Unsicherheit im Umgang mit dem Virus zu erklären versucht. "Suhl war deutschlandweit eine der ersten Einrichtungen, die überhaupt so einen Fall hatte", sagt er. Adams ist Grünen-Politiker und in Thüringen Minister für Migration, Justiz und Verbraucherschutz. "Heute würde man vieles anders machen", sagt er.

Hasskampagne gegen Geflüchtete

Unter den Bewohnern sorgte die Quarantäne für Aufregung - nicht zuletzt, weil zunächst weder die Heimleitung noch Dolmetscher vor Ort waren, um die Situation zu erklären. Einige Bewohner erfuhren von der Ausgangssperre, nachdem Polizisten sie auf dem Weg zum Supermarkt abgefangen und in die Unterkunft zurückgeschickt hatten. Erst Stunden nachdem die Ausgangssperre verhängt wurde, informierten Sprachmittler die Bewohner ausführlich. "Das war ein Fehler", so Adams.

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Wenige Tage später rückten 150 Beamte an. Wasserwerfer fuhren vor. Die Polizisten holten 26 Geflüchtete aus der Unterkunft. Sie sollen versucht haben, über den Zaun zu klettern und Gullydeckel zu öffnen und sie verwehrten anderen Bewohnern den Zutritt zum Speisesaal. Die Bild schrieb von "Randale im Flüchtlingsheim". Rechte missbrauchten den Polizeieinsatz für eine Hasskampagne.

Deswegen will Jeannette Roth zu Beginn des Gesprächs erst einmal etwas klarstellen: "Die Mehrheit der Bewohner hat sich vorbildlich verhalten." Das sei keine Selbstverständlichkeit gewesen angesichts der angespannten Lage. "Die Leute waren praktisch eingesperrt." Roth leitet den Sozialdienst in der Erstaufnahmeeinrichtung. Ihre Stimme klingt am Telefon fröhlich. Dabei liegen stressige Wochen hinter ihr. Sechs ihrer insgesamt zehn Mitarbeiter mussten in Quarantäne, ebenso der einzige Arzt der Unterkunft, mehrere Wachleute und Roth selbst.

Die Bundeswehr sollte helfen

Gleichzeitig stieg die Zahl möglicher Corona-Verdachtsfälle in der Erstaufnahmeeinrichtung zwischendurch auf 36. Jemand musste den Betroffenen das Essen auf die Zimmer bringen, die Fragen der besorgten Bewohner beantworten, Desinfektionsmittel und Atemmasken verteilen. Zeitweilig fiel auch noch die Reinigungsfirma aus. Roth hing nur am Telefon. An einem Tag hatte sie 172 Anrufe auf dem Handy. "Meine Mitarbeiter standen kurz vor dem Nervenzusammenbruch. Wir waren am Ende." Angesichts der Entwicklungen bat der Freistaat Thüringen sogar die Bundeswehr um Unterstützung. Dabei sind die Einsatzmöglichkeiten der Soldaten im Inland strikt begrenzt - und teils umstritten.

Und Pouria Zahedi? Normalerweise ist sein Alltag in der Erstaufnahmeeinrichtung gut durchgetaktet: früh aufstehen, Frühstück, anschließend drei Stunden Deutschunterricht. Nach dem Mittagessen ein Computerkurs, später verteilt er an die Bewohner Kaffee und Kuchen in einem Café der Unterkunft, spielt mit ihnen 'Mensch ärgere dich nicht' oder Karten. Doch jetzt ist das Café geschlossen, die Sprachkurse sind abgesagt. Die vergangenen Tage hat Zahedi fast ausschließlich in seinem Zimmer verbracht. Zum Essen in der Kantine kam er erst raus, wenn die anderen schon fertig waren. Und selbst dann trug er einen Mundschutz. Wenn draußen die Sonne schien, ging er spazieren, "um nicht verrückt zu werden", sagt er.

Keine Seife in den Waschräumen

Die Vorfälle in Suhl zeigen, dass Schutzsuchende besonders abhängig sind von der Krisenfestigkeit der einzelnen Länder. Einen zentralen Notfallplan für den Umgang mit dem Coronavirus gibt es nicht. Die Flüchtlingsräte beklagen deswegen deutschlandweit eine mangelhafte Informationspolitik über Schutzmaßnahmen und geltende Ausgangsbeschränkungen. In manchen Unterkünften fehle es an Aushängen in den unterschiedlichen Sprachen, an leicht verständlichem Material für Analphabeten. Das Landratsamt Landsberg am Lech informierte die Bewohner einer Flüchtlingsunterkunft mit holprigem Englisch und in Großbuchstaben: "STAY AT HOME Don't leave it. The penalty is: 2 years jail or 25 000 Euro. Germany is locked-down. STAY HEALTHY." Zudem häufen sich Berichte über schlechte Hygienebedingungen. Bewohner einer Unterkunft im sächsischen Schkeuditz beklagten, es gebe in ihren Waschräumen nicht mal Seife.

Unterschiedlich ist darüber hinaus das Vorgehen im Falle einer Infektion. Wegen eines Corona-Falls wurde auch im Berliner Stadtteil Charlottenburg eine Erstaufnahmeeinrichtung komplett unter Quarantäne gestellt. Das gleiche gilt für eine Unterkunft im niederbayerischen Landshut. Seit Sonntag darf auch keiner der 600 Bewohner das Ankerzentrums in Geldersheim bei Schweinfurt verlassen. In den Erstaufnahmeeinrichtungen in Leipzig und Schwerin befinden sich dagegen lediglich mit dem Virus infizierte Geflüchtete sowie deren Kontaktpersonen in Quarantäne. Nicht aber die gesamte Unterkunft.

Ähnlich verhält es sich bei der Erstaufnahmeeinrichtung im hessischen Gießen. "Die Bewohner werden über die Sozialbetreuung und Dolmetscher ständig über die aktuellen Lageentwicklungen informiert", so ein Pressesprecher des Regierungspräsidiums. Bisher gibt es in der Erstaufnahmeeinrichtung vier Infektionen, das Land Hessen rechnet offenbar mit einer Zunahme der Fälle. Deswegen will das Sozialministerium bisher geschlossene Unterkünfte wieder öffnen, "um auf jede weitere Entwicklung vorbereitet zu sein", heißt es in einer Pressemitteilung. Thüringen will in den kommenden Tagen 150 Bewohner der Suhler Erstaufnahmeeinrichtung verlegen. Vor allem jene, die als Risikogruppe gelten.

Keine negativen Asylbescheide bis Ostern

Doch Probleme gibt es nicht nur bei der Unterbringung Geflüchteter, sondern auch bei deren Asylverfahren. Zwar können Asylanträge mittlerweile auch schriftlich gestellt werden, doch von offizieller Stelle gibt es niemanden, der den Menschen das komplizierte Vorgehen erklärt. Das Bundesamt für Migration (Bamf) hat die Beratung komplett eingestellt. Freiwillige Helfer versuchen nun aus dem Home-Office heraus wichtige Fragen zu beantworten, über Messengerdienste und Telefon.

Der Austausch von Dokumenten und deren Übersetzung gestaltet sich schwierig. "Der ganze Prozess wird langwieriger. Das ist insbesondere dort ein Problem, wo aufgrund kurzer Fristen Eile geboten ist", schreiben Vertreter der Leipziger "Refugee Law Clinic" in einem kurzen Statement. Im Fall eines abgelehnten Asylantrags haben die Betroffenen nur zwei Wochen Zeit, Einspruch einzulegen. Sonst droht die Abschiebung. Entsprechende negative Asylbescheide hat das Bamf noch bis vor wenigen Tagen zugestellt. Jetzt soll das Verfahren bis Ostern ausgesetzt werden.

Auch Pouria Zahedi weiß nicht, wie es weitergeht. Am 19. März hätte er eigentlich einen Termin bei der Außenstelle des Bamf gehabt. Doch der wurde wegen der Corona-Krise abgesagt. Einen neuen gibt es nicht. Viel wichtiger ist für den Iraner erst mal etwas anderes: "Bloß kein Corona!"

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