Längst werden wieder bange Erinnerungen wach. "Die Intensivstationen", warnt Harvard-Professor Miguel Hernán, "waren unsere letzte Verteidigungslinie." Spanien stehe unmittelbar vor einer erneuten ernsten medizinischen Notlage, so der Berater der spanischen Regierung auf Twitter. Auch Ärztinnen und Ärzte von 62 Madrider Krankenhäusern wandten sich diese Woche an die Öffentlichkeit: Bald könnten sich Szenen wie im März wiederholen. Kein Land Westeuropas wird derzeit so hart von der zweiten Welle der Pandemie getroffen wie Spanien. Anders als in Italien, wo im Frühjahr ähnlich viele Menschen starben, übersteigen die Fallzahlen in Spanien inzwischen das Niveau von damals. Pro Tag meldet das Gesundheitsministerium etwa 9000 neue Fälle, in den vergangenen sieben Tagen starben mehr als 500 Menschen.
Noch vor Kurzem schien man aufatmen zu können. Über den Sommer stieg zwar die Zahl der Infizierten stetig, nicht aber die der Toten, was daran gelegen haben dürfte, dass sich vor allem Jüngere ansteckten, die eher mildere Verläufe zu erwarten haben. Nun allerdings könnte das Virus wieder in ältere und gefährdetere Gruppen gelangt sein und die Zahl der Toten in die Höhe schnellen. Nach Recherchen der Tageszeitung El País sind 95 Prozent der Intensivbetten in Madrid mit Covid-Patienten belegt, in einigen öffentlichen Krankenhäusern wurden bereits Operationssäle in Intensivstationen umgewandelt.
Die Hauptstadt gilt als Treiber der zweiten Welle im Land. Insbesondere in den ärmeren Vierteln im Süden Madrids leben viele Menschen auf engem Raum, die Fallzahlen dort übersteigen längst 1000 Infizierte auf 100 000 Einwohner. Madrids konservative Regionalpräsidentin Isabel Díaz Ayuso musste reagieren: Seit Montag gilt in 37 Gebieten der Hauptstadtregion ein partieller Lockdown.
Die Opposition und auch viele Experten aus dem Gesundheitswesen kritisieren das als zu spät und nicht ausreichend. Tatsächlich ist es schwierig, einzelne Viertel unter Restriktionen zu stellen, während die Bewohner der umliegenden Straßenzüge sich weitgehend frei bewegen können. Außerdem dürfen auch die rund 850 000 Einwohner der betroffenen Gebiete diese weiterhin verlassen, um in den oft überfüllten Bussen oder U-Bahnen zur Arbeit, zur Schule oder zum Arzt zu fahren.
Dennoch will Díaz Ayuso unbedingt ohne einen Lockdown der gesamten Hauptstadt auskommen. Eine komplette Ausgangssperre würde die Wirtschaft zu stark schädigen, glaubt sie. Im Frühjahr hatte sie den landesweiten Lockdown von Premier Pedro Sánchez daher harsch kritisiert. Zuletzt allerdings musste Díaz Ayuso zähneknirschend einen Schritt auf Sánchez zugehen. Unter dem Druck ihrer eigenen Behörden bat sie um Unterstützung durch Soldaten, Polizisten und Ärzte.
In Madrid gelten für mehrere Stadtbezirke Zugangsbeschränkungen, wer hinein will, wird kontrolliert, so wie dieser Radfahrer.
Kein Durchkommen: Russische Touristen vor dem - allerdings wegen einer Bombendrohung geräumten - Eiffelturm in Paris.
In einer Prager Straßenbahn ist der Weg zum Fahrer abgesperrt.
Blick in das Pandemielager von Wien, wo Schutzmaterial bevorratet wird, das für zwölf Wochen reichen soll.
Frankreich
In Frankreich hatte die Regierung lange auf Optimismus gesetzt. Man müsse "mit dem Virus leben", sagte Präsident Emmanuel Macron, als er vergangene Woche die Tour de France besuchte. Der Präsident machte es vor: Maske auf, Hände desinfizieren und trotzdem Spaß haben. Ein Stück weit ist der Spaß nun vorbei. Am Mittwochabend zeigte Gesundheitsminister Olivier Véran die neue Kartografie des Virus. Nach Ende der Ausgangssperre im Mai war Frankreich in grüne, orangefarbene und rote Zonen eingeteilt worden. Auf grün und orange kann man jetzt verzichten. Es gibt nur noch rot, röter und am allerrötesten. Die neuesten Zahlen: 13 072 Corona-Infektionen in 24 Stunden. Besonders hart getroffen ist Marseille. Die Infektionsrate übersteigt 250 Fälle pro 100 000 Einwohner. Dort gilt nun die "maximale Alarmstufe", in Paris die hohe Alarmstufe. In Marseille müssen von Samstag an Bars und Restaurants schließen, vorerst für 14 Tage. In Paris und weiteren Großstädten dürfen sie nur noch bis 22 Uhr öffnen.
Gegen die Verhängung der Ausgangssperre gab es im März kaum Protest oder Widerstand, doch die neuen Beschränkungen führten nun umgehend zu Streit. Die grüne Bürgermeisterin von Marseille, Michèle Rubirola, twitterte sofort ihre Wut in die Welt. Die Schritte seien nicht mit ihr abgesprochen, sie fordert einen Aufschub um zehn Tage. Auch die Pariser Bürgermeisterin, die Sozialistin Anne Hidalgo, beklagte fehlende Absprachen mit der Regierung. Die Maßnahmen seien "sehr streng" und "schwer nachvollziehbar".
Der ungewöhnlich heftige Streit zwischen der Regierung und den zwei größten Städten des Landes steht im Widerspruch zu Macrons Versprechen vom Sommer, man wolle den Regionen bei der Pandemiebekämpfung mehr Verantwortung überlassen. Die rasante Zunahme der Infektionen zeigt zudem, dass die Teststrategie der Regierung gescheitert ist. Macron hatte eine Million Corona-Tests pro Woche angekündigt. Diese Zahl wurde zwar erreicht, allerdings dauert es im Schnitt weit mehr als 48 Stunden, oft eine Woche, bis ein Ergebnis vorliegt. Auch die Nachverfolgung der Kontakte eines Infizierten funktioniert kaum. Und die offizielle Corona-App muss man einen Flop nennen. Nur vier Prozent der Bürger haben sie runtergeladen.
Newsblog zu Corona und Reisen:Lockdown in der Türkei gilt nicht für Touristen
Urlauber müssen sich nicht an die strengen Ausgangsbeschränkungen halten, die für drei Wochen verhängt werden.
Tschechien
Noch am 31. August trat der Premier sehr selbstsicher auf. Im slowenischen Bled sagte Andrej Babiš bei einem internationalen Forum: "We are best in Covid." Keine vier Wochen später zählt Tschechien zu den Ländern Europas, in denen sich das Virus am schnellsten ausbreitet. Täglich infizieren sich weit mehr als 2000 Menschen in dem Land mit knapp elf Millionen Einwohnern, neulich waren es sogar mehr als 3000. Aus der Corona-Krise droht eine Krise des Premiers zu werden.
Am Montag trat Gesundheitsminister Adam Vojtěch zurück. Ein Bauernopfer, schrieben die Medien. Aus Sicht der Opposition ist es Babiš, der Chaos und Verwirrung gestiftet hat. "Er muss jetzt den Gesundheitsminister sprechen lassen und sich zurückhalten", sagt Olga Richterová, Partei-Vize der Piraten. Die sind drittstärkste Kraft im Parlament und überholen derzeit in Umfragen alle Oppositionsparteien. Sie setzten schließlich durch, dass der Krisenstab erneut seine Arbeit aufnimmt. "Unser Plan für eine zweite Welle liegt seit Juni vor, aber Babiš wollte lieber über andere Themen reden."
Der neue Gesundheitsminister Roman Prymula brachte Tschechien als oberster Epidemiologe bereits durch den Beginn der Pandemie. Tschechien hatte mit extrem strengen Maßnahmen reagiert, rief am 12. März den nationalen Notstand aus, schloss alle Grenzen. Schon sechs Tage später galt eine allgemeine Maskenpflicht - auch im Freien. Als Tschechien Ende Mai die Grenzen wieder öffnete, hatten sich gerade mal 8955 Menschen infiziert. Im Sommer wurden alle Maßnahmen aufgehoben, auch die Maskenpflicht. Nun ist die Infiziertenzahl auf mehr als 55 000 angestiegen, es gibt mehr Erkrankte als Genesene. "Aus unserem Land gab es kaum Berichte über schwere Verläufe", sagt Richterová. Vielleicht habe das die Leute sorglos gemacht. Die Anordnungen des neuen Gesundheitsministers fallen indes milde aus: Wirtshäuser und Bars müssen um 22 Uhr schließen, doch Veranstaltungen mit bis zu 1000 Menschen in Innenräumen bleiben erlaubt.
Österreich
Gesundheitsminister Rudi Anschober hatte schon vor zwei Wochen im ORF laut darüber nachgedacht, gleichwohl war die konkrete Ankündigung ein Schock für die Tourismusnation: Skifahren ja, Après-Ski nur noch im Sitzen. Keine wilden Partys, kein Tanz zu lauter Schlagermusik; es gehe leider, so Ministerin Elisabeth Köstinger, im Wintertourismus um mehr als Wintersport. Worum es darüberhinaus geht, das wird den Österreichern mit jedem Tag, an dem mehr als 800 Neuinfizierte gemeldet werden, immer klarer. Viele Stellschrauben müssen gedreht werden, wenn die für das Land so wichtige Branche überleben will. Bundesländer im Westen haben die Sperrstunde vorverlegt, auch im Freien darf nur noch im Sitzen gegessen werden, in Skischulen gibt es maximale Gruppengrößen, in Seilbahnen gilt Maskenpflicht. Die Ballsaison ist abgesagt, überall soll getestet, getestet, getestet werden, um den in Österreichs Medien prognostizierten "Corona-Absturz" des Tourismus zu verhindern. Doch die Panik wächst, die schlechten Nachrichten häufen sich. Deutschland und Belgien haben Wien und nun auch Vorarlberg zum Risikogebiet erklärt, bei den Belgiern steht zudem Tirol auf der roten Liste. Der Tourismus macht 15 Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes aus.
In Regierung und Parlament haben längst die gegenseitigen Schuldzuweisungen begonnen. Noch im Frühjahr hatte sich Kanzler Sebastian Kurz europaweit in positiver Berichterstattung sonnen können, seine Koalition habe die erste Corona-Welle gut gemanagt. Jetzt hagelt es überall Kritik: zu früh zu viele Einschränkungen aufgehoben, chaotische Krisenkommunikation, schlampige Gesetze, zu späte Reaktion auf die zweite Welle. Er selbst habe, so Kurz vor wenigen Tagen etwas beleidigt, schon früher "Maßnahmen verschärfen wollen", aber es sei nicht seine "alleinige Entscheidung" gewesen. Das kam beim grünen Koalitionspartner nicht gut an, und auch unter den konservativen Politikern wächst der Streit. Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner sagte am Mittwoch erkennbar schlecht gelaunt, wenn es um eine Krise wie diese gehe, verlange sie Geschlossenheit und Klarheit - auch im Bund. Das verlangten die Bürgerinnen und Bürger im Übrigen auch.