Süddeutsche Zeitung

Impfstoff gegen das Coronavirus:Lehren aus der ersten Welle

Brüssel will eine Gesundheitsunion, um koordiniert gegen das Virus vorzugehen. Die Verteilung von Impfstoffen könnte ein Vorbild für Gemeinsamkeit sein. Doch es gibt noch Probleme.

Von Karoline Meta Beisel

Routine wäre zu viel gesagt, aber eine gewisse Übung hat die EU-Kommission in diesen Dingen bereits. Am Mittwoch hat sie sich schon zum vierten Mal mit einer Pharmafirma auf die Lieferbedingungen für einen möglichen Corona-Impfstoff geeinigt. Mit zwei weiteren Kandidaten verhandelt die Behörde derzeit noch. Dass die Aufregung diesmal größer ist als bei den bereits abgeschlossenen Verträgen mit Astra Zeneca, Sanofi GSG und Johnson & Johnson, liegt am Timing. Die deutsche Firma Biontech hat am Montag gemeinsam mit ihrem US-amerikanischen Partner Pfizer Fortschritte bei der Entwicklung eines Impfstoffs vermeldet - und könnte damit die erste Firma werden, die tatsächlich ein Vakzin auf den Markt bringt. Insgesamt 300 Millionen Impfdosen - genug für 150 Millionen Impfungen - könnte Biontech nach dem nun geschlossenen Vertrag an die EU liefern. "Mit diesem vierten Vertrag stärken wir ein extrem solides Portfolio aus möglichen Impfstoffkandidaten", sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.

Andere allerdings haben schon vor der EU Verträge mit Biontech geschlossen. Die USA haben 100 Millionen Dosen bestellt, Großbritannien 40 Millionen. Biontech und Pfizer planen, bis Ende dieses Jahres 50 Millionen Dosen zu produzieren, 2021 könnten es 1,3 Milliarden sein. Das ist schnell. Aber vielleicht nicht schnell genug, um alle Vertragspartner sofort im vollen Umfang bedienen zu können. Ein EU-Beamter sagte zu dieser Frage, für die Verteilung in der EU komme es einzig darauf an, wann die Europäische Arzneimittel-Agentur einem solchen Impfstoff eine Zulassung erteilen könne.

Immerhin ist bereits geklärt, wie die Impfstoffe im Anschluss in der Europäischen Union verteilt werden sollen: gleichzeitig an alle Mitgliedstaaten, die das wollen, entsprechend der jeweiligen Bevölkerungsgröße. Darauf haben sich die 27 Mitglieder bei den Gesprächen über die Impfstoffbeschaffung geeinigt. Dieses gemeinsame Vorgehen sei das beste Zeichen dafür, "dass wir nicht mehr da sind, wo wir im Januar oder Februar waren", sagte Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides am Mittwoch - eine Anspielung auf die ersten Monate der Corona-Pandemie. Damals handelten die Länder völlig unkoordiniert und oft auch egoistisch, indem sie etwa ohne Absprachen ihre Grenzen schlossen oder einander kein medizinisches Schutzmaterial verkaufen wollten.

Es stimmt, dass die Mitgliedstaaten dazugelernt haben. Sie verstehen besser, wie sie mit dem Virus, aber auch miteinander umgehen müssen. Aber zum einen geht es bei der Koordinierung der Corona-Maßnahmen immer noch schleppend voran, etwa bei der Einigung auf gemeinsame Teststrategien oder Isolationszeiten. Der "Mangel an Kohärenz und Koordinierung ist bei der Bekämpfung der Pandemie nach wie vor hinderlich", heißt es in einer Mitteilung der Kommission. Zum anderen ist es nicht ausgeschlossen, dass die Mitgliedstaaten bei der nächsten Pandemie wieder genauso egoistisch handeln würden. Von der Leyen hatte darum bereits im September angekündigt, eine "Europäische Gesundheitsunion" aufbauen zu wollen.

Kommissarin Kyriakides hat nun die ersten Elemente für solch eine Gesundheitsunion vorgestellt. So soll die EU-Gesundheitsbehörde ECDC mit Sitz in Stockholm gestärkt werden. Dafür sollen zum Beispiel die Mitgliedsländer verpflichtet werden, verlässliche, vollständige und vergleichbare Zahlen zu liefern. "Wenn diese Daten nicht geteilt werden, führt das zur uneinheitlichen Anwendung von Gesundheitsmaßnahmen, und damit zu Verwirrung und Misstrauen bei den Bürgern", sagte Kyriakides.

Auf Basis dieser Daten soll das ECDC den Mitgliedstaaten künftig konkrete Empfehlungen für Maßnahmen geben können, auch wenn diese nicht bindend sind. Gesundheitspolitik ist nach wie vor Sache der Mitgliedstaaten. Insofern ist das, was die Kommission nun vorstellte, bereits eine "erhebliche Veränderung", wie Kyriakides sagte. Für die neuen Aufgaben soll das ECDC auch personell aufgestockt werden, von jetzt etwa 280 auf dann etwa 350 Mitarbeiter. Zum Vergleich: Beim Robert-Koch-Institut, das "nur" für Deutschland zuständig ist, arbeiten 1200 Menschen. Das zeigt, wie wenig Verantwortung die Mitgliedstaaten der EU in Gesundheitsfragen bisher übertragen haben.

Die Arzneimittelbehörde EMA soll ebenfalls gestärkt werden. Sie soll zum Beispiel den Auftrag bekommen, Lücken in der Arzneimittelversorgung aufzudecken und zu beheben.

Als drittes Element will die Kommission im kommenden Jahr eine ganz neue EU-Behörde ins Leben rufen: "Hera", so der EU-typisch luftige Name (kurz für "European Health Emergency Response Authority"). Aufgabe von Hera soll es vor allem sein, den medizinischen und sonstigen Materialbedarf für künftige Notlagen vorherzusehen. Sie soll die nötigen Produktionskapazitäten, Entwicklungsstätten und den Rohstoffbedarf erfassen und sicherstellen, dass Schwachstellen in der Lieferkette behoben werden.

Schließlich soll die EU künftig auch ohne Zutun der Weltgesundheitsorganisation eine gesundheitliche Notlage ausrufen können. Dadurch würde die Union flexibler auf Gesundheitskrisen reagieren können.

Zur Umsetzung dieser Ideen hat die Kommission drei Gesetzesvorhaben vorgelegt, über die nun die EU-Staaten und das Europäische Parlament beraten müssen. Bei den Abgeordneten dürfte die Kommission auf Verbündete stoßen - sie hatten schon lange vor der Kommission solch eine Gesundheitsunion gefordert. Dementsprechend positiv wurden die Vorschläge vom Mittwoch dort aufgenommen. Sie seien "ein erster wichtiger und richtiger Schritt", sagte etwa Peter Liese, der gesundheitspolitische Sprecher der Christdemokraten. Sein SPD-Kollege Tiemo Wölken sagte, die Staatengemeinschaft brauche "endlich mehr Kompetenzen im Gesundheitsbereich, um harmonisch und koordiniert zu agieren".

Auch Kyriakides weiß, dass es für die Verwirklichung ihrer Vorschläge vor allem auf die Hauptstädte ankommt: "Unsere Gesundheitsunion wird nur so stark sein, wie das Engagement unserer Mitgliedstaaten", sagte sie. Das freilich gilt nicht nur für die nun anstehenden Gespräche über die drei Verordnungen. Ein EU-Beamter formulierte es so: "Wir werden dieses Virus nicht mit Gesetzgebung besiegen."

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