Süddeutsche Zeitung

Internationale Zusammenarbeit:Wie die Corona-Krise die Entwicklungspolitik verändert

Hilfe annehmen: ja. Selbst kooperieren: nein. Durch die Corona-Krise verändert sich die Entwicklungszusammenarbeit in rasantem Tempo. Meist nicht zum Guten. Doch es tun sich Chancen auf.

Von Rixa Rieß

Westliche Länder, die arme Staaten wirtschaftlich und sozial unterstützen: So wird Entwicklungszusammenarbeit immer noch oft beschrieben. Doch dieses traditionelle Narrativ ist schon lange überholt.

Die Nord-Süd-Kooperation dominiert nicht mehr. Im Zuge der Globalisierung haben sich auch Süd-Süd-Kooperationen etabliert, beispielsweise pflegt China enge Wirtschaftsbeziehungen mit dem afrikanischen Kontinent und nimmt dadurch auch politisch Einfluss. Jetzt zeigt sich: Die Corona-Krise bricht die traditionellen Kooperationsbeziehungen weiter auf. Der Direktor des UNDP (United Nations Development Program)-Büro in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul, Stephan Klingebiel, stellt fest: "Es gibt neue Zentren und die Unterstützung verläuft multidirektional." Klingebiel sieht darin einen klaren Trend. Corona hat Geber- und Nehmer-Rollen neu definiert. Unterstützung erfolgt nun auch von Süd nach Nord und Ost nach West. So unterstützte beispielsweise China im März das italienische Gesundheitssystem.

Doch es zeigt sich auch: Obwohl in der Krise enge Zusammenarbeit geboten wäre, antwortet die Weltgemeinschaft nicht gemeinsam auf die Corona-Pandemie, sondern meist bilateral. Die Bereitschaft zur weltweiten Kooperation ist nicht sonderlich groß. Stephan Klingebiel und Artemy Izmestiev berichten in einem Artikel auf dem Web-Blog der UNDP Ende Juni von einer Abnahme der multilateralen Ansätze in den vergangenen Jahren. Starke nationale Interessen machten die Zusammenarbeit kompliziert.

Das Paradoxon: Mehr Not und weniger Kooperation

Diese widersprüchlichen Tendenzen - Unterstützung zu fordern, aber nicht kooperieren zu wollen - verschärfen sich durch die Pandemie. Nicht zuletzt erteilten die USA mit dem Austritt aus der Weltgesundheitsorganisation (WHO) dem internationalen Krisenmanagement eine Absage. Auch die EU geriet in den vergangenen Wochen in die Kritik. Entwicklungsminister Gerd Müller, der 4,3 Milliarden Euro für die Corona-Soforthilfen in den Partnerländer bereitstellen will, nannte den europäischen Einsatz in den Entwicklungsländern "beschämend".

Wie wichtig ein koordiniertes Vorgehen wäre, zeigt beispielsweise der Human Development Index. Zum ersten Mal seit 30 Jahren ist dieser, ein kombiniertes Maß für den Bildungs-, Gesundheits- und Lebensstandard der Welt, krisenbedingt in allen Ländern rückläufig.

Die Pandemie verschärft die Armut und den Hunger. Laut UN-Schätzungen drohen im ersten Pandemiejahr mehr als 10 000 Kindern pro Monat zu verhungern. Lateinamerika und Afrika gelten als Krisenherde. Insbesondere in Subsahara-Afrika ist der Gesundheitssektor in einem schlechten Zustand. Die Unterstützung aus dem Ausland wird also dringend benötigt, für die Geberländer ist sie aber nicht von höchster Priorität.

Das eigene Wohl und das der nationalen Wirtschaft stehen in Krisenzeiten an erster Stelle. "Das könnte bedeuten, dass einzelne Länder ihre Unterstützung für Entwicklungszusammenarbeit zurückfahren", folgert Klingebiel. Gerd Müller verkündete bereits im März, das Profil der Entwicklungszusammenarbeit "schärfen" zu wollen. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung plant, die bilaterale Zusammenarbeit mit 25 der 85 Partnerländer zu beenden.

Die herausgefallenen Länder sollen durch multilaterale Programme der EU weiter betreut werden. Was das für sie genau bedeutet, ist noch nicht klar. Vielen, auch Stephan Klingebiel in Seoul, erscheint es aber tatsächlich als sinnvoll, sich in der bilateralen Zusammenarbeit auf weniger Länder zu konzentrieren und so effizienter agieren zu können.

Schnelle und nachhaltige Strategien?

Es steht außer Zweifel, dass die Krise das bisherige Vorgehen in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit auf den Prüfstand stellt: Sind die Maßnahmen effizient und krisenresistent genug?

Stephan Klingebiel sieht aktuell drei wesentliche Herausforderungen für die globale Entwicklungszusammenarbeit: An erster Stelle steht die akute Soforthilfe, die auf die akute Hungersnot und die Gesundheitssysteme abzielen muss. Wichtig sei auch die Prävention, für die es in vielen Ländern noch nicht zu spät sei. Auf dem afrikanischen Kontinent sind die Infektionszahlen zwar noch gering, die WHO zeigt sich aber zunehmend besorgt. Innerhalb einer Woche sind beispielsweise die Fälle in Namibia um 69 Prozent angestiegen. Und die sozioökonomischen Langzeitschäden sind noch gar nicht vollständig kalkulierbar - laut UNDP könnten bis zu 60 Millionen Menschen weltweit in extreme Armut stürzen.

Die größte Herausforderung für Akteure in der Entwicklungszusammenarbeit: Heute Strategien entwickeln, die morgen Wirkung zeigen. So hatte die UN Mitte Juli ein temporäres Grundeinkommen für fast drei Milliarden Menschen gefordert, um die wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns zu mildern und die Ausbreitung des Coronavirus unter Kontrolle zu bringen. Die Unterstützung soll denjenigen helfen, die in der sogenannten informellen Wirtschaft arbeiten, es sich also trotz Gesundheitsrisiken nicht leisten können, zu Hause zu bleiben.

199 Milliarden Dollar würden monatlich benötigt, um Betroffenen in 132 Entwicklungsstaaten das Existenzminimum zu finanzieren. Ein Schuldenstillstand, den schon UN-Generalsekretär António Guterres forderte, könnte ein solches Grundeinkommen ermöglichen. Das Geld für die Schuldenfinanzierung der Entwicklungs-und Schwellenländer ließe sich demnach umleiten und in Sofortmaßnahmen investieren. Wie die praktische Umsetzung aussehen soll, ist aber noch völlig unklar. In der Krise wird also nach Instrumenten gesucht, um den Kollaps zu verhindern - mit langfristiger Entwicklungszusammenarbeit hat das allerdings wenig zu tun. Dauerhafte Unterstützung muss andere Schwerpunkte setzen, andere Strategien verfolgen. Sie stehe nicht nur vor der Herausforderung, die Folgen der Corona-Krise zu bewältigen, sondern müsse langfristiger und klimafreundlicher sein, so Klingebiel. "Smart recovery" nennen er und sein Kollege Izmestiev diesen Ansatz. Doch die Gefahr besteht, dass die Dringlichkeit des wirtschaftlichen Aufbaus die ökologische Nachhaltigkeit aussticht. "Man muss sich vor Augen führen, dass die langfristigen Kosten des Klimawandels höher sein werden als die der Corona-Krise!", betont Klingebiel.

Er und Izmestiev sind sich sicher, dass die Entwicklungszusammenarbeit durch die Krise ein klareres Profil bekommt: Mehr denn je zeige sich in der Pandemie, wie sehr verschiedene Staaten miteinander verflochten sind. Die Lösung der globalen Probleme, die die Entwicklungszusammenarbeit vermehrt beschäftigen, liege im Eigeninteresse jeder einzelnen Nation - sei es im Hinblick auf das Klima, die Gesundheit oder Sicherheit, erklärt Klingebiel. Die Corona-Krise sei daher eine gute Vorbereitung auf die zukünftigen Herausforderungen der Menschheit. Laut Klingebiel bietet sich eine Chance: "Jetzt hat man die Möglichkeit, entscheidende Weichen zu stellen."

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