Corona-Politik:Diffuse Unruhe erfasst das Land

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Etwa 3000 Menschen haben vor einer Woche auf dem Münchner Marienplatz gegen die aus ihrer Sicht zu strikten Infektionsschutzbestimmungen demonstriert. (Foto: dpa)

Ärger über die Corona-Beschränkungen treibt Tausende auf die Straße. Politiker erinnert der Protest an den Flüchtlingsherbst 2015. Einfache Lösungen gab es damals wie heute nicht.

Von Jan Bielicki, Stefan Braun und Jan Heidtmann

Etwas läuft gerade ziemlich schief in der Republik. Während die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie in hohem Tempo gelockert werden, schwillt der Protest gegen genau diese Beschränkungen immer weiter an. Quer durchs Land, von Bergisch-Gladbach über Luckenwalde bis Ulm, sind für dieses Wochenende Demonstrationen angekündigt. Allein in München wurden etwa zehn Veranstaltungen angemeldet. Eine diffuse Unruhe hat Deutschland erfasst. Wie krude diese Unruhe manchmal daherkommt, zeigt der Aufruf des "Demokratischen Widerstands" aus Berlin: "In dieser sich zuspitzenden Situation ist es verständlich, dass empfundener Schmerz, Wut und Aggression bei uns allen zunehmen." Mit solchen Gedankenspiralen befeuern sich diese Gruppen immer weiter.

Manche Organisatoren haben auch legitime Anliegen. Die Reisebusunternehmer und Wirte, die um ihre Existenz kämpfen; dazu Solo-Selbständige, die mehr Unterstützung einfordern, und Tierschützer, die gegen die Fleischproduktion kämpfen. Doch die Pandemie und ihre Folgen wirken auch wie ein Katalysator für manchen Egomanen, der seine Thesen unters Volk bringen möchte. In Stuttgart schaffte es der Unternehmer Michael Ballweg am vergangenen Samstag, 5000 Menschen zu seinen "Querdenken"-Protesten in die Landeshauptstadt zu holen. Für dieses Wochenende hatte er eine halbe Million Demonstranten angemeldet - eine ziemlich größenwahnsinnige Corona-Party. Die Behörden genehmigten 5000 Menschen. Wie viele wirklich kommen, wird man abwarten müssen. "Die Corona-Krise bringt viel Volk zusammen, das sonst nicht viel miteinander verbindet", sagt der Protestforscher Dieter Rucht. Dazu gehörten besorgte Menschen genauso wie Impfgegner, Funkmastenbekämpfer und "Verschwörungserzähler".

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Bemerkenswerter als diese wilde Mischung ist jedoch die Tatsache, dass die Agitatoren auf immer mehr Resonanz treffen. Der weitaus größere Teil der Deutschen ist zwar zufrieden mit der Corona-Politik der Regierungen im Bund und in den Ländern. Trotzdem strömen seit Anfang Mai Tausende Menschen zu den unterschiedlichen Demonstrationen. Und das dürfte auch daran liegen, dass rechtsradikale Mitorganisatoren die Proteste befördern. Längst hat auch die AfD begonnen, auf den Zug aufzuspringen. Im Bundestag schlüpfte sie bereits in die Rolle des Sprachrohrs der Proteste.

Spätestens damit ist das Ganze für die Regierung zum Problem geworden. Zwar erklären von Markus Söder über Winfried Kretschmann bis zu Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier alle, dass Proteste in einer Demokratie legitim und notwendig seien. Gleichzeitig fühlen sich viele auch im Kanzleramt an den Flüchtlingsherbst 2015 erinnert. Damals war der Regierung die öffentliche Debatte nach anfänglich großer Unterstützung zunehmend entglitten. Einer, der in der Zeit politisch ganz vorne agierte, sagt heute, fast alles wirke auf ihn wie ein Déjà-vu. Wieder handele es sich um eine große Krise mit offenem Ausgang; wieder sei die Lage hoch kompliziert; wieder wachse die Sehnsucht nach einfachen Antworten. Und wieder versuche die radikale Rechte, daraus Profit zu schlagen. "Der einzige Unterschied ist, dass die Probleme heute noch größer sind", sagt der ehemalige Minister.

Die Regierung will Fehlinformationen und Verschwörungstheorien bekämpfen

Gemessen daran wirken die ersten Reaktionen der Regierung schon nach kurzer Zeit unangemessen. Am Montag hatte der Regierungssprecher erklärt, man könne unmöglich von ein paar Tausend Demonstranten ableiten, dass überall die Stimmung kippe. Hört man am Ende derselben Woche in die Regierung, klingt das schon anders. "Natürlich" nehme man das "sehr, sehr ernst", heißt es aus einem zentralen Ministerium. Und im Kanzleramt verweist man jetzt darauf, dass Angela Merkel so viele Auftritte hingelegt habe wie lange nicht - mit TV-Ansprache, Pressekonferenzen und Telefonschalten. Außerdem gebe es auf den Webseiten der Ministerien "sehr viel Aufklärung, die wie noch nie nachgefragt" werde. Niemand soll behaupten können, die Regierung habe sich nicht angemessen gekümmert. Der Vorwurf war ihr im Verlauf der Flüchtlingskrise oft gemacht worden.

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Dass das angesichts der anschwellenden Proteste ausreicht, glaubt freilich nicht mal mehr die Regierung selbst. So scheint es beschlossene Sache zu sein, dass sie in den kommenden Wochen mit zahlreichen zusätzlichen Auftritten und Informationen antworten wird. Vor allem den Fehlinformationen und Verschwörungstheorien will sie eigene Informationen, Abwägungen, Ziele entgegenhalten. "Wir dürfen uns nicht damit begnügen, dass 60 bis 70 Prozent der Menschen uns glauben", sagt ein hoher Beamter. "Wir müssen und wir werden um alle kämpfen, die sich Sorgen um ihre Zukunft machen." Mit Verstand und mit Herz werde das geschehen, auch wenn man "Empathie nicht einfach anknipsen" könne. Auch das ein Verweis auf Kritik von damals.

Eines aber soll nicht passieren: dass Akteure vom rechten Rand noch einmal verharmlost werden. Das sagt nicht nur der hohe Beamte; das sagte am Freitag auch Markus Söder. "Wir dürfen nicht den gleichen Fehler machen wie bei Pegida am Anfang", warnte er.

© SZ vom 16.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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