Süddeutsche Zeitung

Corona-Pandemie:"Wie viele Tote wollen wir uns leisten, damit wir ein freieres Leben bekommen?"

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Thomas Palme hat Frieden damit geschlossen, dass sein Vater an Corona gestorben ist. Aber die großen Fragen, vor die die Pandemie uns stellt, beschäftigen ihn weiter.

Interview von Julia Bergmann

Am 18. Dezember stirbt Edgar Palme auf der Corona-Station einer Münchner Klinik. Er hinterlässt seine Enkelkinder, seine Frau und zwei Söhne. Thomas Palme, 56, ist einer von ihnen. Mit der Süddeutschen Zeitung spricht er über das Loslassen in Zeiten von Corona, seinen Blick auf die Krisenpolitik und was er von der staatlichen Gedenkveranstaltung am Sonntag in Berlin hält.

SZ: Mitte Dezember hat sich Ihr Vater mit dem Virus infiziert. War Ihnen sofort bewusst, wie ernst die Lage ist?

Thomas Palme: Mein Vater ist Mitte Dezember in seinem Pflegeheim aus dem Bett gestürzt. Die Heimleitung wollte ihn vorsorglich ins Krankenhaus bringen. Natürlich ist bei der Aufnahme in der Klinik ein Schnelltest gemacht worden, der war aber negativ. Am nächsten Tag hat mich der Oberarzt angerufen und gesagt, mein Vater sei bedauerlicherweise doch covidpositiv. Danach ging es ruckzuck. Drei Tage später ist mein Vater gestorben.

Was haben Sie in dem Moment gedacht, als der Arzt Sie angerufen hat?

Es war ein Schock. Im Pflegeheim meines Vaters wird zwar permanent getestet. Aber wahrscheinlich hat man über die Schnelltests kein aussagekräftiges Ergebnis bekommen. Das kam erst durch einen PCR-Test.

Und Ihnen war klar, dass Ihr Vater nun in Lebensgefahr schwebt?

Im ersten Moment nicht. Ich hab noch zu dem Arzt gesagt: "Ihr habt das doch bestimmt im Griff, oder?" Da sagte er: "Herr Palme, wir können leider überhaupt nicht sagen, wie der weitere Verlauf ist." Ich habe gefragt, ob es sinnvoll wäre, noch mal ins Krankenhaus zu meinem Vater zu kommen. "Besser eher als später", war seine Antwort. Da war es klar. Eigentlich hätte sich wegen der Auflagen nur ein Angehöriger persönlich verabschieden dürfen. Im Klinikum haben sie eine Ausnahme gemacht, damit mein Bruder auch mitkommen konnte. Das hat mir viel bedeutet, weil wir uns sehr nahe stehen. Das sind Momente für die Ewigkeit.

Gemeinsam haben Sie die Corona-Station betreten. Was war Ihr erster Eindruck?

Das war ein sehr bewegender Moment. Mein Vater lag in einem Zimmer mit einem weiteren Corona-Patienten. Wissen Sie, ich will nachsichtig sein mit den Menschen. Auch mit denen, die die Existenz der Corona-Pandemie abstreiten. Letztlich ist das bei vielen nur ein Weg, mit ihrer Angst umzugehen. Trotzdem kann man allen Corona-Leugnern nur sagen, geht auf solche Stationen und schaut euch an, was da los ist. Alleine die intensiven Schutzmaßnahmen waren unfassbar. Das Personal muss mit Atemschutz und Sichtschutzmasken Höchstleistungen bringen und sich um Menschen kümmern, die Angst haben. Um die Angehörigen und ihre Sorgen. Diese Tränen, diese Trauer, mit denen sie jeden Tag konfrontiert sind, sind für mich unfassbar.

Wie ging es Ihrem Vater in diesem Moment?

Er war schon stark sediert und wurde beatmet. Ich bilde mir aber ein, dass er uns noch wahrgenommen hat. Ich habe seine Hand gehalten. Mein Bruder hat gesagt: "Wenn du uns hören kannst, drück zu." Ich glaube schon, dass ich etwas gespürt habe. Als wir später gegangen sind, haben wir auch seinem Zimmernachbarn alles Gute gewünscht. Er war noch voll da. Er hat gesagt: "Wissen Sie was? Ich komme hier nur noch waagrecht raus." Er ist einen halben Tag nach meinem Vater gestorben. Wenn man das alles selbst miterlebt, dann haut es einen fast um.

Konnten Sie Ihren Vater bei seiner Beerdigung so verabschieden, wie Sie sich das gewünscht haben?

Wir hätten ihn ohne Corona in einem größeren Kreis verabschiedet, aber mein Vater war ein sehr introvertierter Mensch, es wäre ihm nicht so wichtig gewesen. Außerdem war er sehr pragmatisch und strukturiert, er hat schon in seinen Siebzigern festgelegt, wie er beerdigt werden möchte. Deswegen glaube ich schon, dass es so war, wie er es gewollt hätte. Die enge Familie war mit dabei. Ich habe ihm einen Brief in den Sarg gelegt und viele Dinge geschrieben, die ich ihm zu Lebzeiten nicht gesagt habe. So konnte ich loslassen, das war wichtig für mich.

Es gibt Hinterbliebene, die es sehr schmerzt, dass sie ihre Liebsten wegen der Corona-Bestimmungen nur im engsten Kreis beerdigen konnten.

Das sehe ich als Riesenthema. Ich bin fest davon überzeugt, dass sich das auch auf psychologischer Ebene niederschlagen wird. Es wird gesellschaftlich gesehen noch viel Heilung benötigen.

In der öffentlichen Diskussion um die Sterblichkeit von Corona-Patienten gab es ja Stimmen, die gesagt haben, es treffe ohnehin überwiegend die Alten und Vorerkrankten, die vielleicht auch ohne das Virus bald gestorben wären. Was würden Sie darauf gerne entgegnen?

Das ist zynisch. Auch mein Vater war vorerkrankt und 87 Jahre alt, als er starb. Er selbst war wegen seiner Erkrankung schon zuvor bereit, zu gehen. Trotzdem müssen wir in dieser Diskussion höllisch aufpassen. Wie viele Tote wollen wir uns leisten, damit wir ein freieres Leben bekommen? Das kann kein Maßstab sein und darf es nie werden. Jedes Leben ist immer schützenswert. Aber ich bin auch ganz glücklich, dass ich kein Arzt bin, der sich Gedanken über die Triage machen muss. Das wäre die Hölle. Ich glaube, dieses Thema könnte unsere Gesellschaft nachhaltig beschädigen.

Am kommenden Sonntag findet ein staatlicher Gedenkakt statt, um an die Verstorbenen zu erinnern. Was bedeutet Ihnen das?

Für mich persönlich hat das nicht so eine große Bedeutung. Ich sehe aber auch, dass so ein staatlicher Gedenkakt für viele Menschen ein starkes Zeichen in diesem schwierigen Prozess des Abschiedsnehmens von den Corona-Toten sein kann. Ich glaube, dass das für viele Hinterbliebene eine heilende Wirkung hat.

Jens Spahn und RKI-Präsident Lothar Wieler haben sich gerade wieder mit Mahnungen an die Bevölkerung gewandt. Die Infektionszahlen steigen stetig und mit ihnen die Auslastung der Intensivstationen. Was lösen solche Meldungen in Ihnen aus?

Ich bin zweigeteilt. Damit, wie mein Vater gestorben ist, habe ich meinen Frieden geschlossen. Ich persönlich finde aber, man sollte einen deutlich größeren Cut machen, damit wir die Trendwende schaffen. Andererseits kann ich es den Leuten auch nicht verdenken, wenn sie keine Berührungspunkte mit Corona haben und nach Monaten des Lockdowns müde geworden sind. Die Menschen wollen wieder Spaß haben. Auch das verstehe ich.

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