Süddeutsche Zeitung

Corona in Altenheimen:Die Brennpunkte der Pandemie

In Seniorenheimen wütet das Virus besonders heftig. Bis zu 20 Prozent der Bewohner sterben nach der Infektion. Der Mangel an Personal und Material wird offenbar. Und es beginnen die Schuldzuweisungen.

Von Lena Kampf, Sebastian Pittelkow, Nicolas Richter und Katja Riedel

Herr F. ist tot. Immer wieder habe sein Hund den Wintergarten nach ihm abgesucht, erzählt der Heimleiter. Hier saßen sie oft zusammen, Herr F. in einem der Korbstühle und Troll, ein Schäferhundmischling, zu seinen Füßen. Drei Jahre lang wohnten sie gemeinsam im Heim, bis Herr F. plötzlich ins Krankenhaus musste und nicht wiederkam. Troll aber wird bleiben, sagt der Heimleiter. Herr F. hatte heimlich Geld für ihn angespart, damit der Hund nach seinem Tod in seiner gewohnten Umgebung würde bleiben können. Eine Pflegerin hat ihn aufgenommen und bringt ihn jetzt jeden Tag zur Arbeit mit. So, wie Herr F. es sich gewünscht hatte.

Herr F. ist der erste Corona-Todesfall in dem Pflegeheim bei Heilbronn, sechs weitere Infizierte sind verstorben. Etwa ein Fünftel der Bewohner ist tot, innerhalb weniger Wochen. Wie in vielen Alters- und Pflegeheimen in ganz Deutschland, spielt sich hier ein Drama ab, von dem man draußen wenig mitbekommt.

Während viele Orte Deutschlands bisher von schweren Corona-Ausbrüchen verschont geblieben sind, wütet das Virus in Alten- und Pflegeheimen besonders heftig. Diese Einrichtungen sind bundesweit die wahren Brennpunkte der Pandemie, denn die Alten und oftmals Kranken haben dem Virus wenig entgegenzusetzen. Keine gesellschaftliche Gruppe ist der Krankheit Covid-19 so ausgeliefert wie diese.

Die Heimleitungen sagen allerorts, dass sie überfordert seien

Im Wolfsburger Hanns-Lilje-Heim sind 43 der 165 Bewohner gestorben. Im Würzburger Seniorenheim St. Nikolaus sind es bereits 22 Tote unter den etwa hundert Bewohnern. Im hessischen Niederaula starben 16 von 160 Bewohnern im örtlichen Kreisaltenheim, und in einem Heim bei Oldenburg sind 41 von 50 Bewohnern infiziert. Insgesamt sind laut Robert-Koch-Institut bisher fast 1500 Bewohner von Alten- und Pflegeheimen mit einer Corona-Infektion gestorben, das ist annähernd ein Drittel aller Corona-Toten in Deutschland. Die Dunkelziffer liegt wohl noch höher.

In Wolfsburg, Würzburg und Oldenburg ermitteln die Staatsanwaltschaften bereits wegen fahrlässiger Tötung und möglicher Verstöße gegen das Infektionsschutzgesetz. In Wolfsburg hatte ein Anwalt Anzeige erstattet. In Würzburg ging man von Amts wegen der Sache nach, zudem haben die Angehörigen verstorbener Bewohner des Heims St. Nikolaus Strafanzeigen erstattet. Sie werfen der Heimleitung vor, zu spät auf die Gefahr reagiert zu haben. Das Heim war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen. Aber die Stadt Würzburg erklärte, das Heim habe an Personal- und Ausrüstungsmangel gelitten. In der Nähe von Oldenburg beschuldigt der Landkreis Verantwortliche der Seniorenresidenz Atrium am Wall, gegen behördliche Auflagen verstoßen zu haben. Auch dieses Heim war zunächst nicht zu erreichen.

Im Wolfsburger Hanns-Lilje-Heim wiederum, das von der Diakonie betrieben wird, sollen schlechte hygienische Zustände geherrscht haben, so zumindest soll es dem Anwalt von angeblichen Mitarbeitern der Diakonie anonym zugetragen worden sein. In den Zimmern sollen körperliche Ausscheidungen nicht sofort beseitigt, die Bewohner nur unregelmäßig gewaschen worden sein. Die Diakonie hat die Vorwürfe zurückgewiesen und erklärt, man habe frühzeitig Schutzmaßnahmen eingeleitet. Das zuständige Gesundheitsamt fand bei einer Begehung des Heims keine Mängel.

Es ist nicht auszuschließen, dass in einzelnen Heimen Fehler gemacht wurden. Aber auf Nachfrage von SZ, NDR und WDR berichten Heimleitungen allerorts, dass sie überfordert seien. Es fehle an Personal, Schutzmaterial und vor allem an Corona-Tests. Viele Heime fühlen sich von Behörden und Politik geradezu vergessen. Während Pfleger selbst erkranken und ausfallen, versucht man, die verschärften Hygienevorschriften umzusetzen. Das Personal bemüht sich, Infizierte von Nicht-Infizierten zu trennen, schließt Gemeinschaftsräume und liefert den Bewohnern Essen ins Zimmer. Strenge Kontaktverbote bedeuten, dass viele alte Menschen gerade alleine sterben müssen. "Die Corona-Krise legt gnadenlos offen, was im deutschen Gesundheitswesen grundsätzlich schiefläuft", sagt Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz.

Wie das Virus etwa in das Heilbronner Heim kam, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Bereits am 7. März, lange bevor die Landesregierung das vorschrieb, hat es seine Pforten geschlossen. Trotzdem wurde zwanzig Tage später ein Bewohner im Krankenhaus positiv auf Corona getestet. Als in den darauffolgenden Tagen alle Bewohner und Mitarbeiter getestet wurden, stellte sich heraus: Bereits 70 Prozent sind mit dem Virus infiziert. "Das ist wie eine Welle über uns hereingebrochen", sagt der Heimleiter. "Wir hatten ausgefeilte Pläne in der Schublade, wie wir die Infizierten isolieren würden, aber dafür war es dann längst zu spät." Der Heimleiter erzählt offen, möchte aber weder den Namen seines Heims noch seinen eigenen Namen veröffentlicht sehen. Seine Mitarbeiter pflegen weiter, unter schwierigsten Bedingungen.

Solange infizierte Pfleger keine Symptome zeigen, dürfen sie arbeiten

Die infizierten Pfleger stehen unter "erweiterter Quarantäne", ihre Wohnungen dürfen sie nur verlassen, um zur Arbeit zu gehen. Dies diene der "Sicherstellung der medizinischen Infrastruktur der Region", erklärt das Gesundheitsamt. Solange sie keine Symptome der Lungenkrankheit zeigen, dürfen sie arbeiten - und Heimbewohner pflegen, die ebenfalls infiziert sind. "Dass die Mitarbeiter alle bei der Stange bleiben und dabei ihre eigene Gesundheit und die ihrer Familien riskieren, das beeindruckt mich sehr", sagt der Heimleiter.

Wer Infizierte behandelt, soll normalerweise wasserabweisende und virendichte Schutzanzüge tragen, die nach jeder Schicht weggeworfen werden. Aber der Markt gibt nicht genug Wegwerfanzüge her. In Bayern war eines der besonders betroffenen Pflegeheime jenes der Arbeiterwohlfahrt in Roßtal im Landkreis Fürth. Zeitweise waren die Heimleitung und das gesamte Küchenpersonal in Quarantäne, Dutzende Mitarbeiter infiziert. Hier setzt man jetzt auf waschbare Schutzkittel, wobei es sehr aufwendig ist, diese Spezialkleidung täglich zu reinigen und zu trocknen.

Ein noch größeres Problem sieht Rainer Mosandl, Vorstand des Kreisverbands Mittelfranken-Süd der Arbeiterwohlfahrt, nun allerdings in den fehlenden Corona-Tests. Flächendeckende Tests in Heimen seien nicht vorgesehen, und wenn es Tests gebe, komme das Ergebnis oft viel zu spät. Manche Mitarbeiter hätten zwei bis drei Wochen auf ihr Ergebnis gewartet. Dabei sei ein schnelles Testen der Pflegerinnen und Pfleger besonders wichtig, denn sie seien die Einzigen, die das Virus noch in die Einrichtungen tragen könnten. "Wir könnten wesentliches Leid ersparen und Leben retten, wenn wir alle Mitarbeiter und Bewohner regelmäßig testen könnten", sagt Mosandl.

"Vielen Dank für Eure tolle Arbeit" steht auf dem Laken, das Angehörige aufgehängt haben

Auch Knuth Maier-Preuß, Leiter des Seniorenzentrums Atrium am Wall in Wildeshausen bei Oldenburg, sagt, er habe flächendeckende Tests beim Landkreis Oldenburg eingefordert. Nachdem die erste Pflegerin Mitte März Corona-Symptome gezeigt habe, seien aber noch etwa zwei Wochen vergangen, bis Bewohner und Mitarbeiter getestet worden seien. Inzwischen sind mehr als die Hälfte infiziert. Und zwei Bewohner verstorben. Maier-Preuß will dem Landkreis früh Vorschläge gemacht haben, wie auf eine Krise zu reagieren sei. Der Landkreis reagierte mit einer Strafanzeige, weil Verantwortliche gegen Hygienevorschriften verstoßen hätten. Die Staatsanwaltschaft Oldenburg ermittelt.

Knuth Maier-Preuß ist vom Dienst freigestellt worden. Ihm wird vorgeworfen, ohne Schutzkleidung gearbeitet zu haben. Er streitet dies ab. "Es geht in der jetzigen Situation doch nicht darum, sich gegenseitig Vorwürfe zu machen. Auch die Behörden standen dem Virus hilflos gegenüber. Und deshalb müssen wir für die Zukunft aus dieser Hilflosigkeit lernen. Was können wir besser machen? Und wie können wir die Pflegebranche endlich aufwerten?"

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Über dem Eingang des Heilbronner Pflegeheims hängt seit Montag ein Bettlaken. "Vielen Dank für Eure tolle Arbeit" steht darauf, Angehörige haben es aufhängen lassen, als Anerkennung für jene, die ihre Eltern oder Großeltern hier pflegen.

Anerkennung gibt es allerdings nicht überall. Im hessischen Niederaula haben sich Altenpflegerinnen verzweifelt an den Landrat gewandt. Sie würden wie "Aussätzige" behandelt, schreiben sie. Sie würden aus Geschäften verwiesen, dürften nicht tanken. Richtiges Mobbing also. Manche geben den Pflegern die Schuld daran, dass im Kreisaltenheim Niederaula bereits ein Zehntel der Bewohner an Covid-19 gestorben ist. Heim und Landkreis sehen kein eigenes Verschulden. Wenn es aber so viele Todesfälle gebe, dann müsse etwas falsch gemacht worden sein, heißt es in einer E-Mail, die jemand im Ort an den Bürgermeister geschickt hat. Bettina Wolf, die kommissarische Leiterin des Heims, sagt, die Situation sei sehr belastend. Dieser Beruf erfordere viel Einsatz. "Und dann wird man noch mit Füßen getreten."

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SZ vom 23.04.2020
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