"Die maulige Stimmung ist vorbei":Wie sich Bürger und Abgeordnete trotz Corona-Distanz nahe kommen

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Man traf, als man sich noch treffen durfte, im Bundestag kaum einen Abgeordneten, der nicht von der immensen Bedeutung einer besonderen Form der Nähe zu berichten wusste, der Bürgernähe. (Foto: Getty Images)
  • Bürgernähe findet vor allem in den Wahlkreisen statt, aber wegen der Corona-Krise gibt es dort keine Möglichkeit zur Begegnung.
  • Das stellt Abgeordnete gerade vor ganz neue Herausforderungen.
  • Die SZ hat die Parlamentarier Peter Tauber (CDU), Eva Högl (SPD), Jan Korte (Linke) und Ekin Deligöz (Grüne) gefragt, was jetzt anders ist - mit überraschenden Antworten.

Von Boris Herrmann und Robert Roßmann, Berlin

Die Nähe hat gerade einen schweren Stand. Nicht systemrelevante Begegnungen im Risikobereich von unter zwei Metern sind eingeschränkt - und werden mitunter sogar bestraft. "Im Moment ist nur Abstand Ausdruck von Fürsorge", hat Bundeskanzlerin Angela Merkel gesagt. Diese verordnete Distanz betrifft auch den politischen Betrieb selbst. "Die" Politiker kämpfen ja traditionell gegen den Verdacht, sie lebten in einer Hauptstadtblase oder wahlweise auch in einem Raumschiff und hätten den Kontakt zu "den" Menschen verloren. Man traf, als man sich noch treffen durfte, im Bundestag deshalb kaum einen Abgeordneten, der nicht von der immensen Bedeutung einer besonderen Form der Nähe zu berichten wusste, der Bürgernähe.

Der Anspruch der parlamentarischen Demokratie, ihren Bürgern so nah wie möglich zu kommen, wird in Berlin durch die begehbare Reichstagskuppel symbolisiert. Das bleibt aber ein gläsernes Versprechen, solange es nicht in der Praxis eingelöst wird. Bürgernähe findet vor allem in den Wahlkreisen der Abgeordneten statt, an Wochenenden und in den sitzungsfreien Wochen, an den Infoständen vor Supermärkten, in den Bierzelten, bei den Festen der freiwilligen Feuerwehren. Aber wie die Bürgernähe in der Zeit des "Social Distancing" funktionieren soll, stellt die Abgeordneten gerade vor ganz neue Fragen.

"Da, wo ich normalerweise meinen Schwerpunkt setze, funktioniert das im Moment logischerweise gar nicht", sagt Jan Korte, der Parlamentarische Geschäftsführer der Linksfraktion. Korte gehört nicht zu jenen, denen man vorhalten könnte, das Berliner Regierungsviertel nur für gelegentliche Schnupperkurse im wahren Leben zu verlassen. Seit 15 Jahren veranstaltet er regelmäßige Bürgersprechstunden auf den Marktplätzen seines Wahlkreises in Sachsen-Anhalt. In Bitterfeld, Staßfurt, Köthen oder Bernburg.

Man tritt den Bewohnern dieser Städte hoffentlich nicht zu nahe, wenn man sagt: Korte geht dahin, wo es manchmal auch wehtut. Er hat gerade ein Buch geschrieben, in dem er vor allem seine eigene Partei zu mehr Bürgernähe aufruft. Er glaubt, dass sie ihre eigentliche Bestimmung verliert, wenn sie nicht auf die Sorgen der sogenannten einfachen Leute eingeht. Und dazu gehört aus seiner Sicht eben auch "dieses ungeschönte Ding auf dem Markt". Mal komme gar niemand, mal werde man beschimpft, mal bleibe einer nur deshalb stehen, weil er einen Kaffee wolle. Aber oft stecke im Zuruf eines nicht allzu netten Passanten auch ein guter Hinweis. Das alles falle in der Corona-Krise jetzt weg, "und das ist extrem schade", sagt Korte.

Eva Högl geht es ähnlich. Die Sozialdemokratin hat in Berlin-Mitte das Direktmandat gewonnen, obwohl die SPD in dem Wahlkreis nur auf Platz drei kam. Högl glaubt, dass das auch an ihrer Nähe zu den Bürgern liegt. "Dieser direkte Kontakt fehlt mir jetzt sehr, das ist ja der schönste Teil meiner Arbeit", sagt sie. Normalerweise laufe sie regelmäßig "durch den Kiez", habe auch viele Bürgersprechstunden, "all das gibt es jetzt nicht". Aber wie kompensiert man das?

"Der Kontakt hat sich verlagert", sagt Högl. Noch nie in ihrem politischen Leben habe sie "so viele Mails und Briefe von Bürgerinnen und Bürgern bekommen wie jetzt, die schreiben in riesengroßer Anzahl - und es ist schön, dass sie sich mit ihren Nöten an mich wenden". Sie habe aber "auch proaktiv Künstlerinnen und Künstler, Solo-Selbständige und kleine Gewerbetreibende angeschrieben - zum Beispiel mit Hinweisen auf die neuen Hilfsangebote". Aber klappt das mit dem Feedback wirklich?

"Es rufen auf einmal Bürger an und sagen: Ihr seid total super!"

Ja, aber anders als sonst, sagt Högl. "Bei mir haben sich auch viele im Ausland Gestrandete oder deren Angehörige gemeldet - mein Team und ich haben es in Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt geschafft, in allen Fällen zu helfen." Und über die Mails und Briefe erhalte sie auch jetzt wichtige Hinweise von Bürgern, "zum Beispiel, dass die Kurzarbeiterregelung noch verbessert werden sollte - oder welche Gruppen wir bei den Corona-Hilfen noch nicht ausreichend bedacht haben". Auch die Lage der Kinder in den von Corona-Ausbrüchen bedrohten griechischen Flüchtlingslagern habe in den vergangenen Tagen viele bewegt, da habe sie "als zuständige SPD-Fraktionsvize in Verhandlungen mit der Union inzwischen etwas erreichen können".

Högl sitzt jetzt den ganzen Tag zu Hause am Schreibtisch. Ihr Mann, ein Architekt, arbeitet ebenfalls im Home-Office. Das Leben besteht vor allem aus Telefonaten und Videokonferenzen. "Es ist gerade eine ganz komische Wirklichkeit", findet auch Peter Tauber. Der ehemalige CDU-Generalsekretär ist Staatssekretär im Verteidigungsministerium und seit 2009 direkt gewählter Abgeordneter aus Hessen. "Alle Aktionen, die man sonst so gerne im Frühjahr gemacht hat, sind abgesagt", sagt Tauber. "Das gemeinsame Aufräumen der Gemarkung zusammen mit der Feuerwehr und dem THW, da habe ich immer mitgemacht, da kommt man super mit den Bürgern ins Gespräch."

Doch alle derartigen Wahlkreistermine seien jetzt "komplett weggefallen, inklusive aller Parteitermine - es gibt keine Mitgliederversammlungen, keine Frühlingsempfänge, keine Kreisparteitage, nichts". Dafür bekomme er jetzt aber sogar mehr Zuschriften als während der Flüchtlingskrise, dabei war Tauber damals CDU-Generalsekretär - und damit so etwas wie erster Anlaufpunkt für Kritik am Kurs der Kanzlerin.

Etwas anderes sei derzeit aber auch so wie noch nie, sagt Tauber: "Es rufen auf einmal Bürger an und sagen: Ihr seid total super, ich hätte nie gedacht, dass ihr die Hilfsprogramme so hinkriegt!" Das erlebt auch die Sozialdemokratin Högl. "Vor Corona war eine maulige, aufgeregte Stimmung, viele haben sich beschwert", sagt sie. "Jetzt melden sich die Leute und bedanken sich, dass eine Hilfszahlung ankam oder dass die Gestrandeten wieder da sind." Es sei "toll, dass positives Feedback zurückkommt", da sei man in der Vergangenheit ja "etwas entwöhnt worden".

Peter Tauber freut sich jetzt aber auch darüber, was auf einmal alles digital geht. Er betreibt schon seit vielen Jahren den Blog "Schwarzer Peter". Als er 2013 CDU-Generalsekretär wurde, hat er sich vor allem die Digitalisierung seiner Partei auf die Fahnen geschrieben - wegen erheblicher Widerstände ist er dabei aber nicht sehr weit gekommen. "Auch die Parteiarbeit ist jetzt digital, wie ich es mir als Generalsekretär immer erträumt habe. In der Krise geht alles auf einmal", sagt er jetzt. Ein Problem gebe es dabei aber immer noch. "Bei Leuten, die ich gut kenne, merke ich schon an der Stimme, wie sie etwas meinen. Aber Gespräche mit Menschen, die man nicht kennt, über sensible Themen: Das ist schon schwierig." Man müsse jetzt halt doch "damit leben, dass die Art der Kommunikation limitiert ist".

Auch die bayerische Grünen-Abgeordnete Ekin Deligöz macht mit der digitalen Bürgernähe gerade zwiespältige Erfahrungen. Einerseits staunt sie, was sich alles von zu Hause aus erledigen lässt, Konferenzen, Abstimmungen, Beratungsgespräche. Sie sagt: "Ich bin inzwischen zwölf Stunden am Tag virtuell unterwegs und endlich merkt man mal, was sich mit diesen Geräten alles anstellen lässt." Andererseits spürt sie plötzlich, dass ihr die Bahnfahrten zu den Terminen in ihrem Wahlkreis fehlen. Da hat sie sich früher in Papiere eingelesen, auf Reden vorbereitet oder auch einfach mal zur Entspannung aus dem Fenster geschaut. "Vor dem Rechner geht alles Schlag auf Schlag", sagt Deligöz.

Jan Korte hält das ganze Thema Social Media in der politischen Kommunikation ohnehin "für leicht überschätzt". Gerade in ländlichen Wahlkreisen wie seinem in Sachsen-Anhalt müsse man erst einmal jene rausrechnen, die gar keinen konstanten Zugang zum Internet hätten, und dann noch jene, die keine Lust hätten, ihre komplette Kommunikation auf Facebook und Twitter auszurichten. Ähnlich wie Högl beobachtet auch Korte gerade "eine Renaissance des Briefes". Und auch wenn ihn Corona zum Improvisieren zwingt, an der direkten Ansprache vor Ort, am Seniorennachmittag der Volkssolidarität, führe auch in Zukunft kein Weg vorbei. Bürgernähe bleibe für ihn "eine ganz geerdete klassische Sache".

Auch Eva Högl erlebt noch digitale Schranken. "Die Bundestagsverwaltung und die Berliner Verwaltung sind nicht gerade die digitalsten", klagt sie. Da könne "nur ein erschreckend geringer Anteil mobil arbeiten - und das in Berlin im 21. Jahrhundert, das werden wir ändern müssen".

Ein Eindruck bleibt trotzdem: Die Bürger und ihre Abgeordneten, sie scheinen sich in der Corona-Krise wieder nähergekommen zu sein.

© SZ vom 14.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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