Triage-Gesetz gefordert:"Die noch zu erwartende Lebenszeit darf kein Kriterium sein"

Coronavirus - Intensivstation

Dem Patienten zuerst helfen, der wahrscheinlich am längsten weiterleben würde? Diskriminierend für Gebrechliche und Vorerkrankte, sagen Menschenrechtler.

(Foto: Matthias Balk/dpa)

Die aktuellen Triage-Regeln für Intensivstationen diskriminieren alte und behinderte Menschen, kritisiert das Institut für Menschenrechte. Der Bundestag müsse handeln.

Von Nina von Hardenberg

Wen sollen Ärzte bevorzugen, wenn sie auf einer überfüllten Intensivstation nicht allen Patienten helfen können? Diese Frage müsse der Bundestag dringend in einem eigenen Triage-Gesetz regeln, fordert das Deutsche Institut für Menschenrechte in seinem diesjährigen Menschenrechtsbericht. Bislang stehen den Ärzten nur die unverbindlichen Richtlinien der Fachgesellschaften zur Verfügung. Diese aber seien nicht im Einklang mit Grund- und Menschenrechten, heißt es in dem Bericht.

Besonders kritisch sieht das Institut die Empfehlung der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi). Darin heißt es, dass Ärzte neben der Schwere der akuten Covid-Erkrankung auch die Gebrechlichkeit und die Lebenserwartung aufgrund von Vorerkrankungen berücksichtigen sollen. Dem Patienten zuerst helfen, der eher überleben wird - tatsächlich würden vermutlich viele Ärzte in der Praxis genau so entscheiden. Stelle man diese Kriterien aber als allgemeine Regel auf, diskriminiere dies laut Menschenrechtsinstitut alte Menschen und solche mit Behinderungen, da diese eben häufiger von Gebrechen betroffen sind als andere. "Die noch zu erwartende Lebenszeit darf kein Kriterium sein", sagte die Direktorin des Instituts, Beate Rudolf, bei der Vorstellung des Berichts am Donnerstag. Menschen bräuchten "die Gewissheit, dass sie nicht wegen ihres hohen Alters oder ihrer Behinderung von intensivmedizinischer Versorgung ausgeschlossen werden".

Das Institut hat den gesetzlichen Auftrag, den Bundestag jährlich über die Situation der Menschenrechte in Deutschland zu informieren; diesmal ist der Bericht stark von der Corona-Krise geprägt. Insgesamt habe der Rechtsstaat auch in der Pandemie funktioniert, sagte Rudolf. Gerichte hätten übermäßigen Einschränkungen der Grundrechte Einhalt geboten und etwa die Versammlungsfreiheit gegen Bestrebungen verteidigt, sie zeitweilig ganz auszusetzen.

Kritisch bewertet das Institut jedoch den Umgang mit Kindern und Jugendlichen. Für die Politik seien sie eher "Treiber der Pandemie" gewesen als Personen mit Rechten, die angehört werden müssen, sagte Rudolf. Mit Sorge beobachte man, dass nicht genügend getan wurde, um die erneute Schließung von Kitas und Schulen zu verhindern. Egoistisch habe sich Deutschland zudem bei der weltweiten Verteilung der Impfstoffe verhalten, indem es sich zuerst welche sicherte.

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