Falls jemand noch ein weiteres Indiz dafür benötigt, wie schlimm es nach dem Sommer des Verdrängens und dem Herbst des Zögerns in der Pandemie steht - hier ist es: Die Diskussion über die Triage ist zurück. Also über die tragische Auswahl, die Kliniken zu treffen haben, wenn zu wenige Intensivbetten für zu viele auf Beatmung angewiesene Covid-Patienten zur Verfügung stehen. Vor anderthalb Jahren war dies - zumindest für Deutschland - eine eher theoretische Debatte. Heute geht es dabei buchstäblich um Leben und Tod.
Immerhin hat die frühe Auseinandersetzung mit den Konsequenzen einer Überlastung des Gesundheitssystems dazu geführt, dass Kriterien erarbeitet wurden. Bereits im März 2020 legten die medizinischen Fachgesellschaften klinisch-ethische Empfehlungen für die "Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und der Intensivmedizin" vor. In den nächsten Monaten wird das Bundesverfassungsgericht zudem entscheiden, ob die Triage gesetzlich geregelt werden muss.
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Vor allem ältere Menschen fürchten, dass sie im Ernstfall den Jungen und Gesunden weichen müssten. Tatsächlich zielt der oberste Grundsatz bei der Priorisierung darauf, jegliche Diskriminierung wegen des Alters ausdrücklich zu vermeiden. Entscheidend ist die "klinische Erfolgsaussicht". Wer nach ärztlicher Einschätzung eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit hat, genießt Vorrang, egal, ob dieses Leben statistisch noch fünf oder 50 Jahre dauern wird. Eine Priorisierung "allein aufgrund des kalendarischen Alters" sei nicht zulässig, heißt es daher ausdrücklich in den Empfehlungen.
Freilich können auch diese Kriterien nicht darüber hinwegtäuschen: Faktisch dürfte die Konkurrenz Jung gegen Alt häufig zugunsten der Jüngeren ausgehen. In den Empfehlungen ist beispielsweise von der "besseren Gesamtprognose" die Rede, die für die Priorisierung eine Rolle spielen kann. An anderer Stelle wird auch "Gebrechlichkeit" erwähnt. Entscheidend ist aber, dass nicht das Geburtsdatum im Ausweis entscheidet, sondern das Ergebnis einer ärztlichen Untersuchung. Denn über allem steht ein verfassungsrechtlicher Grundsatz: Leben darf nicht gegen Leben abgewogen werden. Das ist ein Gebot der Menschenwürde. Es darf keine Hierarchie anhand eines "Lebenswerts" vorgenommen werden. Das Ziel ist, möglichst viele Leben zu retten - und nicht möglichst viele Lebensjahre.
Die Details sind dennoch umstritten. Dürfen die "klinischen Erfolgsaussichten" auch dann herangezogen werden, wenn ein Patient mit schlechten Überlebensaussichten bereits am Beatmungsgerät hängt? Muss er das Bett frei machen, wenn jemand mit besseren Chancen eingeliefert wird? Darf er dem Tod überlassen werden?
Maßgebliche Stimmen halten dies für hoch problematisch oder gar unzulässig, darunter der Deutsche Ethikrat sowie dessen früheres Mitglied Reinhard Merkel, emeritierter Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie. "Eine solche Rechtspflicht zur Hinnahme der (aktiven) Aufopferung des eigenen Lebens für Dritte und durch Dritte ist unter keinem Gesichtspunkt zu legitimieren", schrieb Merkel. Eine Gruppe von Strafrechtlern - Karsten Gaede, Michael Kubiciel, Frank Saliger und Michael Tsambikakis - plädierte vergangenes Jahr indes dafür, zumindest bei einer "deutlich besseren Erfolgsaussicht" einen solchen fatalen Bettentausch zu ermöglichen.
In jüngster Zeit wurde zudem, wenig verwunderlich, die Frage aufgeworfen: Was ist eigentlich mit den Ungeimpften? Müssen sie nicht zurückstehen, wenn die Intensivbetten für geimpfte Patienten benötigt werden? Weil sie doch die Hauptschuldigen an der Überlastung der Kliniken sind? Der Philosoph Martin Hoffmann nannte dies kürzlich in der FAZ eine faire Verteilung von Risiken.
Im Triagefall könnten Ungeimpfte das Nachsehen haben - rein faktisch
Dass sich eine solche Extremposition durchsetzen könnte, darf freilich als unwahrscheinlich gelten. Das Gesundheitssystem kenne kein "Schuldprinzip" bei lebensrettenden Maßnahmen, hat die Ethikratvorsitzende Alena Buyx sogleich klargestellt. Sonst hätten Motorradfahrer und Extremsportler bei Unfällen schlechte Karten. Gewiss, ein einzelner abgestürzter Basejumper bringt das Gesundheitssystem nicht an seine Grenzen - aber das tut ein einzelner Ungeimpfter ebenfalls nicht. An der Klinikpforte danach zu fragen, wer wieviel Verantwortung für seine Krankheit trägt, gäbe ein grundlegendes Solidarprinzip preis.
Aber auch hier gilt: Im Triagefall könnten Ungeimpfte dennoch das Nachsehen haben - rein faktisch. Denn ihr Sterberisiko ist bei einer Erkrankung an Covid-19 deutlich höher. Die Überlebenswahrscheinlichkeit - das maßgebliche Kriterium - dürfte häufiger für die Aufnahme von Geimpften sprechen.