Süddeutsche Zeitung

Welt nach der Pandemie:Virus im System

Die Krise testet die Leistungsfähigkeit von Staaten und Regierungsformen, die internationale Ordnung wird herausgefordert. Dabei wirkt Corona wie ein Verstärker für gute wie schlechte Eigenschaften.

Von Stefan Kornelius

Henry Kissinger ist für vieles bekannt, aber nicht für allzu große Freizügigkeit im Umgang mit seinen Gefühlen. Jetzt, mit 96 Jahren, hat sich der Jahrhundertstratege und Strippenzieher für alles Globale noch einmal zu Wort gemeldet mit einer wuchtigen Mahnung zur Corona-Krise - und mit einem emotionalen Bekenntnis.

Wie sich Corona also anfühlt für einen Mann aus der Hochrisikogruppe, der sein Leben lang Risiken und Bedrohungen analysiert, beschrieben, geschaffen und aufgelöst hat? Vor 76 Jahren wurde der Gefreite Kissinger als Soldat in der 84. Infanteriedivision der US-Armee von der Ardennenoffensive der Wehrmacht überrascht. Auf Englisch wird dieser letzte Aufbäumversuch der Deutschen Battle of the Bulge genannt - bulge, weil der Vorstoß der Wehrmacht eine tiefe Delle in den Frontverlauf der Alliierten hineingetrieben hat. Kissinger saß in einem Schlüsselort dieser Delle, dem Städtchen Marche. Nach dem hastigen Rückzug seiner Einheit blieb er freiwillig zurück, um den Feind zu beobachten.

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Als deutschstämmiger Jude wusste Kissinger, was jüdischen Exilanten drohte, sollten sie den deutschen Einheiten in die Hände fallen. Heute schreibt er von einer "undefinierten Gefahr", die er damals verspürt habe, einer Gefahr "die keiner Person so wirklich gilt, die wahllos und zerstörerisch zuschlägt". So wie Covid-19 in diesen Tagen. Nicht zu fassen, unheimlich.

Kissinger sieht den Krieg vor Augen, und er kennt die Folgen: "Wenn die Covid-19-Pandemie vorüber ist, werden die Institutionen vieler Länder in der Wahrnehmung der Menschen versagt haben. Es ist irrelevant, ob dieses Urteil objektiv gerecht ist. Die Wahrheit ist: Die Welt wird nach dem Coronavirus nicht mehr dieselbe sein."

Nichts wird mehr sein, wie es war, nach Corona kommt alles anders - kein Urteil hat momentan mehr Konjunktur als die apokalyptische Prognose über einen völlig veränderten Weltbetrieb in der Post-Corona-Zeit. Außenpolitiker und Analysten überbieten sich mit Vorhersagen - allerdings bekommen auch sie Kissingers "undefinierte Gefahr" nicht besser zu fassen. Corona, so viel steht fest, setzt Kräfte frei und Fantasien. Was aber wird davon wahr?

Vorausgesagt wurden bisher: das Ende der Globalisierung, des Multilateralismus, der amerikanischen Dominanz und der Europäischen Union. Erwartet werden bewaffnete Konflikte aller Art, gar ein veritabler chinesisch-amerikanischer Krieg, die Zementierung illiberaler und autoritärer Strukturen wie in Ungarn oder Polen, der Verfall von Freiheitsrechten und eine globale Armuts- und Zerstörungswelle, die vor allem die weniger entwickelten Staaten treffen würde. Und natürlich Pekings Dominanz in der Welt.

Lernt die Welt aus dem kollektiven Schock? Ein wenig Hoffnung gibt es

Auf der optimistischen Seite sind hingegen im Programm: die Hoffnung auf das Ende aktueller Kriege wie in Jemen oder Libyen, die Hoffnung auf eine positive Wirkung auf das Klima, die Erwartung einer Abwahl von Donald Trump, die Besinnung auf eine gebremste Globalisierung und ein Sieg der Demokratien über alle bösen Regierungsformen auf der Welt.

Was in den vielen klugen und weniger klugen Analysen zu kurz kommt, ist die Erkenntnis, dass kaum ein politischer Akteur auf der Welt momentan Zeit dafür aufbringen kann, Pläne zur Weltordnung oder -unordnung zu schmieden.

Ein paar Feststellungen lassen sich freilich bereits treffen: Sicher ist etwa, dass globale Institutionen wie die Vereinten Nationen und ihre Sonderorganisationen wie die Weltgesundheitsorganisation zu den Verlierern der Krise gehören. Der Sicherheitsrat hat (im März sogar unter dem Vorsitz Chinas) kein nennenswertes Wort zu Corona geäußert, die WHO gerät nicht ganz ohne Eigenverschulden zwischen die Mühlsteine der Politik. Ihre Wächterrolle über die Gesundheit aller Menschen ist beschädigt, nachdem sie zu plump Chinas Lesart der Pandemie übernommen hat.

Auch die großen multilateralen Zusammenschlüsse wie die G 7 oder die G 20 sind passiv geblieben. Die USA, die derzeit den G-7-Vorsitz innehaben, sagten die Treffen der Gruppe ab - zu mehr kam es nicht. Es gibt keinen Versuch, Hilfsströme zu lenken, die Rückkehr Gestrandeter zu koordinieren, geschweige denn über die katastrophale Wirkung auf die Weltwirtschaft mit wachsenden Schulden und steigenden Arbeitslosenzahlen zu beraten oder gar die Virusforschung zu einer Gemeinschaftsaufgabe der Menschheit zu machen.

Ja zum EU-Binnenmarkt. Aber zu welchem Preis?

Globale Politik ist erfahrungsgemäß nur möglich, wenn große Staaten sie einfordern. Wenn internationale Institutionen versagen, versagen also auch die Großmächte. Hier liegt die nächste Botschaft der Krise: Die USA ziehen sich noch schneller von der Weltbühne zurück als bisher, einen Führungsanspruch erhebt Präsident Donald Trump jedenfalls nicht. Corona befördert also auch den politischen Isolationismus. China auf der anderen Seite zeigt zwar Großmachtambitionen, schafft es aber nicht, das notwendige Vertrauen aufzubauen. Intransparenz und Vertuschung über den Ausbruch der Krise, eine nur scheinbar uneigennützige, aber in Wahrheit zutiefst spalterische Politik mit Hilfslieferungen und eine an Geschichtsfälschung grenzende Propaganda nähren das Misstrauen der Welt.

Mit ihrem ganz speziellen Führungsproblem kämpft die Europäische Union, deren Mitglieder sich lange Tage engstirnig verschanzt hatten, ehe sie sich wieder auf die Vorteile ihrer Gemeinschaft besannen. Als Nutznießer des Binnenmarktes wissen sie am allerbesten, dass die Globalisierung natürlich nicht tot sein wird. Der Binnenmarkt muss leben - aber zu welchem Preis? Der Umgang mit den ökonomischen Folgen wird auf Jahre die Arbeit der EU prägen und über ihren Charakter bestimmen.

Henry Kissinger schrieb in seinem Corona-Brandbrief über den großen Unterschied zwischen der Ardennenschlacht und der Viruszeit: Es geht um Vertrauen. 1944 wussten die Amerikaner, für welches Ziel sie kämpften, ihre Regierung hatte eine Art "nationale Bestimmung" vermittelt. "Jetzt, in einem gespaltenen Land, ist eine effektive und weitsichtige Regierung nötig, um Hindernisse ungeahnten Ausmaßes zu überwinden."

Was Kissinger nur andeutet: Diese effektive und weitsichtige Regierung gibt es nicht in den USA unter Donald Trump. Vertrauen in den Staat - das ist in Amerika keine nachwachsende Ressource. "Der Staat" ist ausgelaugt, kaputtgespart, ein Feindbild für viele. Und ganz oben sitzt ein Präsident, der in unermesslichem Narzissmus Corona als Reality-Soap versteht. "Präsident Trump ist ein Quotenhit", trötete der Mann auf Twitter, während er Malariamittel zur Behandlung empfahl und Bestatter in New Yorker Parks Massengräber für die Ärmsten aushoben. Das Modell Amerika wird nach der Krise noch weniger nachahmenswert erscheinen.

Heute genügt ein schneller Blick in die Welt, um gute Regierungen von schlechten zu unterscheiden. Good governance, ein Lieblingsbegriff der modernen Politik für gute Regierungsführung, bekommt plötzlich griffige Konturen. Wen also schützt eine Regierung, kann man ihr vertrauen?

Corona wirkt wie ein Wachstumsbeschleuniger für gute und für schlechte Eigenschaften eines Staates. Wer über eine funktionierende Bürokratie verfügt, wo das Gesundheitssystem gut finanziert ist, wer auf den Rat von Fachleuten hört, wo der Staat Vertrauen genießt als Dienstleister seiner Bürger - dort kommt man mit der Krise klar. Deutschland, Südkorea, Taiwan oder Singapur gehen beispielhaft, aufgeklärt und wissenschaftlich fundiert mit dem medizinischen GAU um.

Chaos, Missmanagement, Rivalität - ein maroder Staat wird wehrlos in der Krise

In den USA oder Großbritannien hingegen offenbart sich, wie institutionelles Chaos, politisches Missmanagement oder eine radikale Sparpolitik systemgefährdend werden können. In Großbritannien hat die Regierung erst gezögert und war dann wankelmütig in ihrer Strategie - so gingen wertvolle Wochen verloren. Der desolate Zustand des Nationalen Gesundheitsdienstes höhlt das Vertrauen in die Regierung weiter aus. Noch schlimmer sind die Verhältnisse in den USA, wo Behördenrivalität und Inkompetenz, gepaart mit Ignoranz im Weißen Haus, die weltweit schlimmsten Pandemieherde angefacht haben.

Beide Staaten zeigen auch: Zentralistisch organisierte Systeme, bestenfalls noch mit einem Regierungschef mit großer Machtfülle an der Spitze, sind krisenanfälliger. Sie warten auf das eine Signal von der Spitze. Hingegen garantiert die Schwarmintelligenz föderaler Strukturen bessere Ergebnisse, auch wenn der Entscheidungsprozess von außen chaotisch anmutet.

Sitzen auch noch autokratische oder populistische Typen an der Spitze, verschärft das die Krise weiter. Der Umgang mit dem Virus wird dann am Verhalten einer einzigen Person gemessen - und die redet sich dann entweder um Kopf und Kragen (wie Donald Trump), reagiert harsch und autoritär (wie Xi Jinping in China) oder baut Sündenböcke auf (wie Wladimir Putin, der nun Russlands Provinzgouverneuren das Krisenmanagement aufgebürdet hat).

Corona wird also zunächst einmal die Trends der Weltpolitik verstärken: Autokratische Staaten werden noch autokratischer, anarchische Staaten anarchischer, schlecht gemanagte Länder fallen tiefer ins Chaos. Der Abschied der USA von der Welt beschleunigt sich; der verbliebene Rest Ordnung könnte schnell zerfallen, zöge nach der Pandemie auch noch eine geopolitische Krise am Horizont herauf. Vorkehrungen für schlechte Zeiten haben jedenfalls die wenigsten getroffen. Nun liegen die Volkswirtschaften am Boden, und Bündnisse sind geschwächt.

Eine kleine Hoffnung bleibt, formuliert vom Direktor des australischen Lowy Institute, Michael Fullilove: Vielleicht könnten sich die Vorbilder im Krisenmanagement zusammentun, vielleicht könnten sie ein Beispiel abgeben für gute Politik und gute Strukturen in schwierigen Zeiten. Einen Namen dafür gäbe es bereits: die Koalition der Kompetenten.

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Quelle:
SZ vom 11.04.2020
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