Es gab in den vergangenen Jahrzehnten kaum ein Schuljahr, das für so viele Schülerinnen und Schülern mit so viel Stress verbunden war. Monatelanger Distanz- und Wechselunterricht, Diskussionen, ob und wie geprüft wird, ständige Unsicherheit, wie es weitergeht. Und dann in den Ferien nach einem solchen Jahr weiter zur Schule gehen?
Genau das bieten einige Bundesländer an, darunter Berlin, Bayern und Baden-Württemberg. Vor allem schwächere Schülerinnen und Schüler sollen die Möglichkeit bekommen, Versäumtes nachzuholen. Die Kurse dauern zwei Wochen, unterrichtet wird in den Kernfächern Deutsch und Mathematik, zum Teil auch in Englisch. Die Teilnahme ist freiwillig.
Fragt man Bildungsforscher, ob sie Sommerschulen für eine gute Idee halten, gerade nach diesem anstrengenden Jahr, antworten sie: an sich schon. "Es ist sehr wichtig, dass etwas unternommen wird, um die Lernlücken zu schließen", sagt Mareike Kunter vom DIPF Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation in Frankfurt. "Alles ist besser als nichts." Der Pädagogikprofessor Klaus Zierer von der Universität Augsburg verweist auf die Forschung in den USA, die die positive Wirkung von Sommerschulen belegt.
Doch im nächsten Atemzug nennen alle Experten eine Reihe Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit der Extraunterricht in den Ferien auch Früchte trägt. Die wichtigste: Die Lernlücken jedes Teilnehmenden müssen vor Beginn genau identifiziert werden. Nur dann ist die individuelle Förderung möglich, die Sommerschulen versprechen. Doch genau diese Diagnose gibt es nicht, zumindest nicht flächendeckend. In keinem Bundesland wurden nach der Rückkehr zum Präsenzunterricht umfassende Lernstandserhebungen durchgeführt. In Berlin gab es vor Beginn der Sommerkurse Einzelgespräche mit den Teilnehmenden, so soll der Förderbedarf erfasst werden.
Denn einen Schüler oder eine Schülerin einfach in einen Kurs für Mathe oder Deutsch zu schicken, weil er oder sie in diesem Fach schlechte Noten schreibt, bringt nichts. "Es ist nachgewiesen, dass Nachhilfe nur dann funktioniert, wenn der externe Lehrer qualifiziert ist und sich mit dem regulären Lehrer über die Bedürfnisse des Schülers austauscht", sagt der Bildungsforscher Olaf Köller von der Universität Kiel.
Es kann nur um das Nötigste gehen
Dass man in zwei Wochen aufholen kann, was innerhalb von Monaten versäumt wurde, glaubt ohnehin niemand. Es kann nur um das Nötigste gehen: grundlegende Kenntnisse, die man braucht, um in den Kernfächern weiter dem Unterricht folgen zu können - wie das Addieren von Brüchen funktioniert oder worin sich die Vergangenheitsformen im Englischen unterscheiden. Fachspezifisches Wissen lasse sich in Sommerkursen gut erklären und vertiefen, sagt Mareike Kunter.
Schwieriger ist es mit Fähigkeiten, die sich vor allem Grundschüler erst aneignen müssen, damit der Wissenserwerb überhaupt funktioniert: erfassen, was genau verlangt wird; wissen, wie man sich helfen kann, wenn man nicht weiterkommt. Dieses sogenannte selbstregulierte Lernen zu lernen, brauche seine Zeit, erklärt Kunter - und benötige Fachleute, die es gezielt fördern.
In den Sommerschulen unterrichten Honorarkräfte - die Lehrer, die ihre Schülerinnen und Schüler genau kennen, haben ja Ferien. An ihre Stelle treten Lehramtsstudenten und pensionierte Lehrer, zum Teil auch Quereinsteiger mit Uniabschluss. "Diese Leute müssen sehr gut vorbereitet werden", sagt Klaus Zierer. "Und zwar nicht nur in fachlicher Hinsicht, sondern auch in pädagogischer."
Der Professor für Schulpädagogik organisiert zusammen mit dem Schulwerk Augsburg die Sommerschulen an 41 Einrichtungen. Knapp 120 Lehramtsstudenten widmen sich seit Ende Mai einen Tag pro Woche ihrer künftigen Aufgabe. Sie werden im August, unterstützt von 80 Lehrkräften, an die 1000 Schüler unterrichten - in Fünfergruppen. In Rheinland-Pfalz soll sich ein Ersatzlehrer um 20 Schüler aus unterschiedlichen Jahrgangsstufen kümmern. "Ich kann mir schwer vorstellen, wie das funktionieren soll", sagt Zierer.
Er hat sich bereits im Januar mit dem Schulwerk Augsburg zusammengetan und ein Konzept erarbeitet - und sagt trotzdem, dass die Zeit kaum ausreiche. Dass die Sommerschulen in manchen Bundesländern erst wenige Wochen vor Ferienbeginn angekündigt wurden, in Bayern jede Schule auch noch ihr eigenes Konzept ausarbeiten und die Nachhilfelehrer selbst suchen muss, hält er für wenig sinnvoll. "Das ist eine zusätzliche Belastung für die Schulleiter-Teams, die im letzten Jahr ohnehin mit Arbeit überhäuft wurden", sagt Udo Beckmann, Bundesvorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung (VBE).
Um die Kinder zu erreichen, die die Förderung am dringendsten nötig haben, müssten die Schulen zudem gezielt auf Eltern zugehen - und das ist zeitaufwendig. Oft wurde nur per Elternbrief auf das Angebot hingewiesen. In Berlin, wo die Sommerferien schon begonnen haben, ist die Nachfrage trotzdem groß. Fast alle der 7400 angebotenen Plätze sind vergeben, vor allem bei den Grundschülern gab es deutlich mehr Interessierte.
Wie aber motiviert man Kinder, weiter in die Schule zu gehen, während ihre Freunde am See oder im Urlaub sind? "Den Schülerinnen und Schülern Angst zu machen, dass sie im kommenden Jahr den Anschluss verlieren, wenn sie sich jetzt nicht anstrengen, ist der schlechteste Weg", sagt Mareike Kunter. Viele Schulen bieten zusätzlich erlebnispädagogische Maßnahmen aus den Bereichen Kunst, Musik und Sport an.
Für Klaus Zierer sind kurzfristig angesetzte Sommerschulen dennoch "reine Beschäftigungstherapie". Olaf Köller sieht darin "symbolisches Handeln" der zuständigen Politiker. Als Vorsitzender der Ständigen wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (StäwiKo) berät er die Bundesländer in Bildungsfragen. Dass Sommerschulen angeboten werden, sei ein erster Hinweis der Politik, dass man sich wirklich um die Folgen der Pandemie an den Schulen kümmern wolle, sagt Köller. "Es soll nur keiner denken, dass es mit zwei Wochen getan sei."