Süddeutsche Zeitung

Corona und Bildung:"Armut und Enge sind nicht das größte Problem"

In Schleswig-Holstein und Mecklenburg -Vorpommern beginnt das neue Schuljahr. Viele der Erstklässler waren wegen der Pandemie nicht regelmäßig im Kindergarten. Das hat Folgen - für sie selbst und für die Arbeit der Grundschulen.

Von Lilith Volkert, München

Etwa 700 000 Kinder werden bis Mitte September in Deutschland eingeschult. Wegen der Pandemie haben viele von ihnen in den vergangenen anderthalb Jahren nur unregelmäßig einen Kindergarten besucht. Fabienne Becker-Stoll ist Psychologin und leitet das Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Sie weiß, was nun auf Schulanfänger und Lehrer zukommt.

Warum ist es gut für die Entwicklung von Kindern, wenn sie einen Kindergarten besuchen?

Im Alter zwischen drei und sechs Jahren lernen Kinder enorm schnell, auf allen Ebenen. Ihre Sprache entwickelt sich rasant, sie können Zusammenhänge erfassen und fangen an zu verstehen, wie man sich als Teil einer Gruppe verhält. Vieles davon lernen sie von anderen Kindern deutlich besser als von Erwachsenen.

Geht das nicht auch zu Hause, mit Geschwistern oder Freunden?

Natürlich, vielen Kindern hat das längere Daheimbleiben während der Pandemie auch nicht nachhaltig geschadet. Wer daheim allerdings keinen strukturierten Alltag und kein liebevolles Umfeld voller Anregungen hatte, kam damit nicht gut klar. Ich habe mich deshalb auch sehr dafür eingesetzt, dass möglichst viele Kinder die Notbetreuung besuchen durften.

Etwa 15 bis 20 Prozent der Kinder in Deutschland wachsen in Armut auf, oft in beengten Verhältnissen.

Armut und Enge sind nicht das größte Problem, sondern die Belastung, die damit einhergeht. Eltern, die von chronischer Armut betroffen sind, stehen häufig unter enormem Stress. Die Pandemie hat das noch verschärft. Ein instabiles Umfeld wirkt sich auf die Entwicklung wichtiger Fähigkeiten aus. Wem nie vorgelesen wird, der tut sich schwer, längere Zeit zuzuhören. Diese Kinder kommen verunsichert und ahnungslos in die Schule.

Das heißt, ihnen fehlt neben der Tagesstruktur auch die gezielte Förderung im Kindergarten?

Auf jeden Fall. Wobei ich unter Förderung nicht verstehe, dass alle gemeinsam ausschneiden üben oder Arbeitsblätter für Vorschüler ausfüllen. Gut ausgebildete Fachkräfte regen Kinder an, etwas zu tun, das ihnen Spaß macht und das gleichzeitig bestimmte Fähigkeiten schult. Um die Feinmotorik zu trainieren, muss ich nicht ausmalen lassen, das geht auch beim Legospielen. Es ist sehr wichtig, dass die Kinder, von denen wir reden, ermutigt werden, dass sie sich als kompetent erleben.

In den ersten Klassen wird es dieses Jahr deutlich mehr Kinder geben, die diese wichtigen Erfahrungen nicht gemacht haben. Wie sollten die Schulen darauf reagieren?

Die Lehrkräfte werden nicht darum herumkommen, sich genau anzuschauen, was jedes einzelne Kind kann und was es braucht. Ein Kind ist ja nicht dumm, nur weil es Lücken hat. Wenn auf seine Bedürfnisse eingegangen wird, wenn es im oder neben dem Unterricht gezielt gefördert wird, kann es oft in kürzester Zeit aufholen.

Es fehlen schon jetzt Lehrkräfte an Grundschulen. Wer soll diese Zusatzangebote stemmen?

Ich sehe die Schulleitungen in der Verantwortung, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, etwa durch Lernbegleiter.

Oft geht es nur um mangelnde Fähigkeiten von Kindern - was ist mit schwierigem Sozialverhalten?

Die Grundschulen sind bereits sehr gut darin, im ersten Jahr eine Gemeinschaft zu schaffen, mit den Schülern Regeln zu erarbeiten und ihnen zu vermitteln, warum das wichtig ist. Dieses Jahr ist es besonders wichtig zu erkennen, welche Kinder innerlich so unter Druck stehen, dass didaktische und pädagogische Angebote nicht ausreichen. Dann müssen die Schulen gemeinsam mit den Eltern und externen Beratungsstellen eine Lösung finden. Das darf nicht der einzelnen Lehrkraft überlassen werden.

Warum tut sich die Politik so schwer damit, in der Pandemie bessere Rahmenbedingungen für Schüler zu schaffen?

Das ist ein grundlegendes Problem. Wir sehen die Verantwortung für Bildungserfolg insgeheim beim Kind und seinen Eltern. Stattdessen brauchen wir ein inklusives Bildungsverständnis: Wirklich jedes Kind soll sich entfalten können und die bestmögliche Bildung bekommen, egal in welcher Familie es aufwächst.

Was ist, wenn die Schulen im Herbst oder Winter schließen müssen?

Aus entwicklungspsychologischer Sicht kann ich nur sagen: Das darf auf gar keinen Fall passieren.

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