Der Präsident ist ausgeflogen, und der Moskauer Bürgermeister greift durch: Sergej Sobjanin führt die Impfpflicht in der russischen Hauptstadt ein. Am Mittwochnachmittag veröffentlichte er das neue Dekret. In Genf begann zwar praktisch zeitgleich das Treffen zwischen Wladimir Putin und US-Präsident Joe Biden. Angesichts der neuen Moskauer Regeln wurde das Präsidententreffen in Russland aber fast zum Nebenthema.
Denn die Impfskepsis in Russland ist groß, die Idee einer Pflichtimpfung eher unbeliebt. Putin selbst hatte sie Ende Mai noch "unzweckmäßig und unmöglich" genannt. Die russischen Bürger müssten schon selbst verstehen, dass sie sich "einer sehr ernsten und sogar tödlichen Gefahr" aussetzten, wenn sie auf das Vakzin verzichteten.
Doch Sergej Sobjanin konnte offenbar nicht mehr auf die Vernunft der Leute warten. In seiner Stadt seien in den vergangenen 24 Stunden 70 Menschen gestorben, schreibt er in seinem Blog. Mehr als 12 000 Covid-19-Patienten lägen derzeit in Moskauer Krankenhäusern.
Bereits am Samstag hatte der Bürgermeister eine erste Notfallmaßnahme ergriffen: Er verordnete allen Moskauern kurzfristig eine Woche lang arbeitsfrei. Am Sonntag war in der Hauptstadt ein neuer Rekord erreicht worden: 7700 Neuinfizierte an einem Tag, so viele wie noch nie in diesem Jahr.
Die Impfpflicht gilt zunächst für alle, die in ihren Berufen Kontakt mit Kunden, Gästen, Patienten oder Schülern haben. Unternehmen etwa im Bildungssektor, in der Gastronomie, im Gesundheitswesen, im Einzelhandel oder im Nahverkehr werden verpflichtet, mindestens 60 Prozent ihrer Belegschaft impfen zu lassen, und zwar schnell. Die erste Spritze sollen die Angestellten bis Mitte Juli bekommen, die zweite bis zum 15. August. Das gilt beispielsweise auch für Schönheitssalons, für Banken, Hotels, Kinos und Fitnesscenter.
Die Regel gilt außerdem nicht nur für die Stadt, sondern für die gesamte Region Moskau mit mindestens 20 Millionen Einwohnern. In Moskau ist laut Sobjanin bisher erst jeder Zehnte geimpft. Angesichts der jüngsten Covid-19-Opfer wird der Bürgermeister in seinem Blog sehr deutlich: "Man wünscht niemandem einen solchen Tod", schreibt er. Die meisten der Verstorbenen wären gar nicht erst krank geworden, wenn sie das Vakzin rechtzeitig erhalten hätten. "Wenn ein Mensch krank wird, insbesondere mit schwerem Verlauf, bedauert er natürlich, dass er nicht geimpft wurde. Aber dann ist es schon zu spät."
60 Prozent der Russen lehnen Impfung ab
Russland war es zwar wichtig, weit vorne zu sein bei der Entwicklung seines Impfstoffs Sputnik V. Der wurde bereits im August 2020 in Russland zugelassen - als erstes Vakzin weltweit. Im Dezember dann ordnete Putin flächendeckende Massenimpfungen an. Es wurden Zentren eingerichtet, in denen sich praktisch jeder seine Spritze abholen konnte - kostenlos und freiwillig.
Doch die meisten Russen wollen nicht, laut Umfragen lehnen immer noch 60 Prozent die Impfung ab. Präsident Putin sprach im Mai von 18 Millionen Geimpften, das wären nicht mal 13 Prozent der Bevölkerung. Es ist kaum öffentlich für das Vakzin geworben worden. Covid-19 war in den vergangenen Monaten ohnehin nur noch ein Randthema in den russischen Medien. Nun musste sich Kremlsprecher Dmitrij Peskow in Genf dazu äußern: "Es gibt noch keine Impfpflicht, darüber wird immer noch nicht gesprochen", sagte er auf die Frage, ob die Moskauer Regeln auf das ganze Land ausgeweitet werden könnten.
Putin selbst hatte Monate gewartet. Als er sich im März endlich impfen ließ, durften keine Kameras dabei sein. Der Kremlchef verriet nicht mal, welchen Impfstoff er gewählt hat. Letztlich sei es die Sache jedes Einzelnen, ob er sich impfen ließe oder nicht, schreibt auch Sobjanin. Das gelte zumindest, solange man zu Hause oder auf seiner Datscha säße. Wer ungeimpft unter Leute gehe, der mache sich schon zum Komplizen des Virus. Und für alle, die mit Menschen arbeiteten, sei die Impfung nun "definitiv nicht nur ihre persönliche Angelegenheit".