Corona-Regeln:Der Widerstand des Nordens

Ministerpräsident Günther zu neuen Corona-Maßnahmen

Für strenge Regeln, aber kein striktes Beherbergungsverbot: Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther.

(Foto: Gregor Fischer/dpa)

Einige Bundesländer wie Schleswig-Holstein gehen eigene Wege in Sachen Corona-Vorschriften. Das macht die Lage unübersichtlich - und ist selbst dort nicht unumstritten.

Von Nico Fried, Kristiana Ludwig, Berlin, und Ralf Wiegand, Hamburg

Wäre der Tourismus ein Covid-19-Patient, er befände sich derzeit in der Rekonvaleszenz: runter von der Intensivstation, aber noch lange nicht ohne Rückfall-Risiko. Als im März, in der ersten Welle, bundesweit die Mobilität im ganzen Land fast auf Null gestellt worden war, traf das naturgemäß Hotels, Pensionen und Vermieter von Ferienwohnungen hart: Mit dem Beherbergungsverbot versiegte ihre Einnahmequelle. Mit den Lockerungen im Sommer erholte sich der Patient zwar - aber was kommt jetzt?

Besonders an den beliebten Küsten von Schleswig-Holstein verursacht das Wort "Beherbergungsverbot" seitdem Schnappatmung. Das aktuelle Tourismusbarometer, am Donnerstag veröffentlicht, zeigt, wie schwer die Corona-Krise die entsprechenden Betriebe im Land getroffen hat: Allein für die Monate März und April weist es Umsatzeinbußen von 880 Millionen Euro aus. Die so genannte Recovery-Phase, in der sich die Branche nun befinde, also die Zeit der Genesung, wird das nicht mehr auffangen können: Gegenüber dem Rekordjahr 2019 hinken die Übernachtungszahlen (Januar bis August) zwischen den Meeren um fast 20 Prozent hinterher.

Schleswig-Holstein hatte bereits im Juni vergleichsweise strenge Regeln angelegt und für Reisende aus Risikogebieten, auch deutschen Regionen, Quarantäne vorgeschrieben. Die Strandkörbe an Nord- und Ostsee waren trotzdem voll, die regionalen Brennpunkte waren wenige und hatten klare Ursachen wie etwa die Zustände in den Schlachtbetrieben im Nordwesten und Westen. Also halb so wild.

Umso besorgniserregender war für die Branche die Ankündigung von Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) vor einer Woche, pünktlich vor den Herbstferien, das Beherbergungsverbot für Reisende aus deutschen Risikogebieten strikt und kleinteilig durchzusetzen. In den Blick gerieten dabei die lokalen Corona-Hotspots in der Bundeshauptstadt. Berliner reisen sehr gern an die See, sie machen 4,5 Prozent der Kurzzeittouristen in Schleswig-Holstein aus. Die aus den kritischen Berliner Bezirken hätten das dann nicht mehr gedurft: ein bundesweiter Alleingang.

Das kam nicht gut an. Der Hamburger Virologe Jonas Schmidt-Chanasit nannte diese regionalen Beschränkungen "weder verhältnismäßig noch realistisch", auch Oppositionspolitiker im Land kritisierten den Ministerpräsidenten. "Bisher haben wir das meiste mitgetragen", sagt Ralf Stegner, SPD-Fraktionschef im Kieler Landtag, "aber so einen Flickenteppich kann man den Leuten nicht vermitteln." Günther erinnere ihn an die Phase der Pandemie, als jeder "der härteste Ministerpräsident" habe sein wollen: "Ziel muss aber eine möglichst bundeseinheitliche Lösung sein."

Das wird offenbar immer schwerer, je länger die Pandemie dauert. Es war Ende April, als Kanzlerin Angela Merkel nach den bundesweit strengen Einschränkungen des öffentlichen Lebens das erste Mal über "Öffnungsdiskussionsorgien" der Ministerpräsidenten klagte. Kurz darauf änderte sie ihre Strategie: Statt auf einheitliche Coronaregeln zu drängen, überließ sie das Krisenmanagement dem Wettstreit der Landesfürsten. So profilierte sich Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) mit strengen Ansagen, während Armin Laschet (CDU) aus Nordrhein-Westfalen viel über "Verhältnismäßigkeit" und über "ökonomische und soziale Härten" sprach. Die Regeln der Pandemie drifteten über den Sommer auseinander.

Der Unmut darüber wird größer, auch in Schleswig-Holstein. Gerade in diesem Land, sagt Ralf Stegner, in dem man "nur über die Straße gehen" müsse, um nach Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg oder Niedersachsen zu kommen, sei alles andere nicht zumutbar. Die Tourismusbranche fürchtet durch zersplitterte Regelungen mehr Verunsicherung und daraus resultierende Stornierungen für das bisher sehr gut vorgebuchte Spätjahr.

Das Entgegenkommen der Schleswig-Holsteiner, Berlin nun doch als Ganzes und nicht in seinen Einzelteilen zu betrachten, ist dem Versuch einer solchen möglichst bundeseinheitlichen Regelung geschuldet - und der Hoffnung, so Druck auf die Hauptstadt machen zu können. "Ich erwarte, dass dort nun Regelungen getroffen werden, das Infektionsgeschehen einzudämmen", sagt der Kieler Gesundheitsminister Heiner Garg (FDP) an den rot-grün-roten Berliner Senat adressiert. Das klingt nicht nach bedingungslosem Miteinander.

Das Wichtige bei den Beschlüssen sind die Protokollerklärungen

Doch je näher die kalte Jahreszeit rückt, desto größer wird im Kanzleramt offenbar das Bedürfnis, wieder Beschlüsse im Konsens mit den Ländern zu fassen. In den Videokonferenzen der vergangenen Wochen waren es auch nicht mehr Söder und Laschet, die vorpreschten oder bremsten, sondern vor allem die ostdeutschen Bundesländer, die sich nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einlassen konnten. Mittlerweile dekorieren Ministerpräsidenten die Bund-Länder-Beschlüsse zu Corona mit Protokollerklärungen wie Familien ihren Weihnachtsbaum. "Sachsen-Anhalt wird kein Bußgeld für Verstöße gegen die Maskenpflicht einführen", stand dort im August. "Thüringen fordert eine bundeseinheitliche Regelung, dass angeordnete Gästelisten in Restaurants ausschließlich für den Infektionsschutz verwendet werden dürfen", hieß es im September. Mithin ist die eigentliche Abschlusserklärung nichts wert, solange man nicht Zahl und Inhalt der Protokollerklärungen kennt.

Am Mittwochabend, nach der jüngsten Schaltkonferenz von Kanzleramtschef Helge Braun mit den Chefs der Staatskanzleien, war das besonders krass. Vier Länder lehnten den vom Kieler Günther angeregten Kompromiss zu Beherbergungsverboten für Touristen aus Risikogebieten per Erklärung ab, Niedersachsen behielt sich eine Prüfung vor. Nun muss man beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern weiterhin zwei negative Tests vorlegen, um sich als Reisender aus einem Risikogebiet von Quarantäne zu befreien, für Urlaub in Schleswig-Holstein reicht ein negativer Test, der beim Check-In nicht älter als 48 Stunden sein darf. Die Hoteliers dort warten nun auf die Verordnung, in der steht, wie sie das überhaupt umsetzen sollen.

Auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sagt, es brauche "regional und in bestimmten Bereichen" Beschränkungen, wenn sich in Landkreisen oder Bundesländern größere Ausbrüche abzeichnen. Auch im Herbst und Winter wird die Pandemie also nicht mit einheitlichen Regeln bezwungen werden, sondern von den Landespolitikern in den Bundesländern - sie wollten es so.

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