Corona-Maßnahmen:Tausende "Querdenker" bei Protesten in Stuttgart

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Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen in Stuttgart (Foto: Christoph Schmidt/dpa)

Während sich der Demonstrationszug durch die Innenstadt bewegt, halten die Teilnehmer weder Abstandsregeln ein noch tragen sie Maske. Die Polizei greift bislang nicht ein.

Für die Menschen, die am Samstag in Stuttgart durch die Straßen ziehen, gilt ganz offensichtlich eine andere Realität: eine, in der das Corona-Virus völlig ungefährlich ist und mit Liebe, Singen und Tanzen, maximal noch mit Vitamin C und Vitamin D bekämpft werden kann. Eine Realität, in der die Pandemie nicht existiert, weshalb man alle Beschränkungen nicht nur einfach aufheben kann, sondern auch aufheben muss. Das kann man an den Schildern sehen, die die Demonstrierenden bei sich tragen, und an ihrem Verhalten. Bei dem Demozug von der Stuttgarter Innenstadt hin zu einer Kundgebung der Initiative "Querdenken" auf dem Cannstatter Wasen sind die Leute fast ausnahmslos ohne Maske unterwegs, es werden Hände geschüttelt und Bekannte umarmt.

Hunderte Polizeibeamte sind an verschiedenen Orten in der Stadt im Einsatz, weil mehrere Veranstaltungen angemeldet waren. Bislang greifen sie aber nicht ein. "Wir weisen die Teilnehmer auf die Einhaltung hin", twitterte die Stuttgarter Polizei. Polizeihubschrauber seien zur Dokumentation über dem Stadtgebiet im Einsatz. In einem weiteren Tweet der Polizei hieß es: "Masken- und Abstandsverstöße werden von uns beweissicher dokumentiert."

Die Stadt Stuttgart hat im Falle von Verstößen gegen die Maskenpflicht und die vorgeschriebenen Abstände angekündigt, Versammlungen aufzulösen. Rund 2500 Menschen werden allein zu einer Kundgebung der sogenannten Querdenken-Bewegung auf dem Cannstatter Wasen erwartet, die Zahl wurde jedoch schon vor dem Beginn um 16 Uhr überschritten.

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Gut tausend Protestierende starteten mittags am Marienplatz in Stuttgart-Süd und machten sich auf einen mehr als sechs Kilometer langen Weg nach Bad Cannstatt, in dessen Verlauf immer mehr Teilnehmer dazu stießen. Teilweise vermummte Gegendemonstranten versuchten, den Weiterzug zum Cannstatter Wasen zu behindern. Sie standen mit Fahrrädern oder saßen auf der Bundesstraße 14. Die Polizei löste die Menge auf.

"Querdenken"-Gründer Michael Ballweg teilte in einer Mail am Nachmittag mit, aus einer zuverlässigen, anonymen Zuschrift gehe hervor, 100 gewaltbereite Hooligans würden versuchen, sich in die Demo einzuschleusen. Nach Angaben der Stuttgarter Polizei wurden am Mittag vor dem Stuttgarter Rathaus 20 Menschen, die mutmaßlich dem Rockermilieu angehören, kontrolliert. Es seien Quarzhandschuhe, pyrotechnische Gegenstände und Sturmhauben beschlagnahmt worden. Dabei sei eine Polizeibeamtin leicht verletzt worden. Die Betroffenen erhielten Platzverweise.

Wenig später sei ein pyrotechnischer Gegenstand in einen Aufzug geworfen worden, verletzt worden sei dabei niemand, teilte die Polizei mit. Ein Tatverdächtiger sei kontrolliert worden. "Der Polizei liegt ein Video vor, wonach mutmaßlich ein Journalist offenbar von einem Aufzugsteilnehmer geschlagen wurde. Die Ermittlungen hierzu dauern an", hieß es in einer Pressemitteilung. Gegen den Leiter der Versammlung, die am Vormittag am Marienplatz begonnen hatte, wird laut Polizei ein Ermittlungsverfahren eingeleitet.

Die Initiative Querdenken wird inzwischen vom Verfassungsschutz beobachtet

Mit Unverständnis hat das baden-württembergische Gesundheitsministerium auf die Veranstaltung reagiert. "Ich verstehe nicht, dass die Stadt sich sehenden Auges in diese Situation manövriert hat", sagte Ministerialdirektor Uwe Lahl. Sowohl schriftlich als auch in einem persönlichen Telefonat habe er dem Stuttgarter Ordnungsbürgermeister Clemens Maier die Möglichkeiten aufgezeigt, die die Corona-Verordnung des Landes auch für ein Verbot von Großdemonstrationen hergebe. Die Stadt habe sich dann gegen ein Verbot entschieden. "Das war aus infektiologischer Sicht in dieser Phase der Pandemie falsch", sagte Lahl. Wie solle man der Bevölkerung erklären, dass sich an den Osterfeiertagen nur fünf Menschen aus zwei Haushalten treffen dürften, während Tausende Demonstranten ohne Maske und ohne Mindestabstand durch die Stadt zögen. "Das Demonstrationsrecht ist ein hohes Gut, aber in einer Pandemie gibt es auch dafür Grenzen", sagte Lahl.

Im April 2020 hatte Michael Ballweg, Gründer der Stuttgarter Initiative "Querdenken", mitten im ersten Lockdown zum ersten Mal zu einer Demonstration eingeladen - zu der damals ein paar Dutzend Menschen auf den Stuttgarter Schlossplatz kamen. Zwei Wochen später waren es bereits mehrere Hundert, und im Mai 2020 mussten die Demos dann auf den Stuttgarter Volksfestplatz umziehen, weil einige Tausend Teilnehmer erwartet wurden, um gegen die politischen Entscheidungen zur Bekämpfung der Corona-Politik zu demonstrieren.

Danach haben sich die Großdemos in andere Städte verlagert, unter anderem nach Berlin, wo Ballweg im August 2020 eine "verfassungsgebende Versammlung" ausrief. Zuletzt hatte am 20. März eine Demonstration in Kassel mit mehr als 20 000 Menschen für Schlagzeilen gesorgt - erlaubt waren nur 6000. Es kam zu teils gewalttätigen Auseinandersetzungen.

Mittlerweile wird die Initiative "Querdenken" in Baden-Württemberg vom Verfassungsschutz beobachtet. Das aber hat etliche Menschen nicht davon abgehalten, nun gut ein Jahr nach Beginn der Pandemie zu Ballwegs Jubiläumsveranstaltung nach Stuttgart zu kommen. Nach Autokennzeichen und Schildern auf der Demonstrationen zu urteilen, haben einige dabei weite Wege auf sich genommen und sind etwa aus München oder Berlin angereist.

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