Süddeutsche Zeitung

Querdenker-Proteste in Berlin:Wer Herrin der Straße ist

Trotz Verboten zogen Tausende Gegner der Corona-Regeln durch die Straßen Berlins. Hat die Polizei die "Querdenker" wieder unterschätzt? Experten sagen: diesmal nicht.

Von Jan Bielicki

Es waren mehr als 2200 Polizisten, die in Berlin Sonntagsdienst leisten mussten. Ihre Aufgabe: das gerichtlich bestätigte Verbot von insgesamt sieben Versammlungen durchzusetzen. Sie waren allesamt von Personen aus der sogenannten Querdenker-Szene angemeldet und gegen die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie gerichtet.

Doch auch diese massive Polizeipräsenz verhinderte nicht, dass sich auf den Straße Berlins immer wieder Hunderte Protestierende sammelten, stellenweise nach Angaben der Polizei sogar bis zu 2000 Demonstranten. Protestzüge durchbrachen Polizeiketten, Teilnehmer griffen Polizisten und Journalisten an, beschimpften, bespuckten und bedrängten sie. Der Journalistengewerkschafter Jörg Reichel wurde vom Fahrrad gestoßen, geschlagen und getreten. 60 Polizeibeamte wurden zum Teil schwer verletzt.

Trotz der Verbote waren mehrere Tausend Anhänger der "Querdenker" sichtbar in der Stadt unterwegs - und einige von ihnen auch gewalttätig. Hat also wieder einmal die Taktik der Polizei im Umgang mit den Corona-Protestierern versagt?

Das wurde den örtlichen Einsatzleitungen schon bei ähnlichen Großkundgebungen etwa in Stuttgart, Kassel, Leipzig oder Berlin vorgehalten, als Tausende Demonstranten von der Polizei unbehelligt durch die Straßen ziehen durften, obwohl sie massenhaft gegen Maskenpflicht, Abstandsgebote und andere Auflagen verstießen. Diesmal aber lobte Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) das Vorgehen seiner Beamten als "professionell und angemessen". "Wir können nicht erkennen, dass die Polizei nicht Herrin der Lage gewesen sei", sagte er dem Tagesspiegel.

Die Polizei hat eingegriffen - gegen eine extrem gewachsene Militanz vieler Demonstranten

Kenner der Polizeiarbeit stimmen ihm zu. Die Polizei habe im Umgang mit Corona-Demonstranten nun schon "gut ein Jahr praktische Erfahrungen", sagt Jörg Radek, stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei, und nicht nur in Berlin habe sie "die Lehren daraus gezogen". Auch Rafael Behr, Polizeiwissenschaftler an der Akademie der Polizei in Hamburg, verweist auf "große Lernschritte", die die Sicherheitsbehörden im Umgang mit den Corona-Protesten gemacht hätten.

Tatsächlich hätten viele Polizisten zunächst "noch stark verunsichert" vor dem neuen Phänomen gestanden, erklärt Behr. Anfangs nämlich unterschieden sich Demonstrationen von Corona-Verharmlosern deutlich von üblichen Extremistenaufzügen. Aber in Pandemiezeiten sind Teilnehmer an solchen Kundgebungen nicht eine Gefahr für die Allgemeinheit, weil sie Steine oder Molotowcocktails mit sich führen, sondern schlicht, so Behr, "weil sie da sind" - und dicht gedrängt, ohne Maske und ohne Abstand das Infektionsrisiko aller erhöhen. Reagiert habe die Polizei darum oft "mit großer Zurückhaltung".

In Berlin ist das nun anders gewesen, auch nach Behrs Beobachtung. Die Polizei hat eingegriffen - gegen eine extrem gewachsene Militanz vieler Protestler, die damit nun wieder jenen Extremisten ähneln, mit deren Aufzügen Polizeieinsatzleiter in Städten wie Berlin lange Erfahrung haben. Den Corona-Demonstranten gehe es nun offensichtlich "nicht mehr um politische Belange, sondern darum, dass die bestehende demokratisch-rechtsstaatliche Ordnung abgeschafft werden soll", meint der Polizeigewerkschafter Radek. Mit ihren "massiven Aggressionen gegen Polizisten und Medienvertreter" hätten die Protestierenden in Berlin "weitere Gründe dafür geliefert, die Bewegung auch mit nachrichtendienstlichen Mitteln zu überwachen". Unterschätzt, da sind sich Radek und Behr einig, wurden die Proteste diesmal nicht.

Verhindern lässt sich mit polizeilichen Mitteln kaum, dass sich trotz Verboten immer wieder auch größere Gruppen sammeln. Gelang es der Polizei in Berlin, die Teilnehmer von einem Platz zu verdrängen, gelangten die Zerstreuten durch Nebenstraßen und Hinterhöfe schnell wieder an neue Sammelpunkte, gesteuert von Posts aus sozialen Netzwerken. "Kleingruppentaktik" heißt das bei der Polizei. "Sie können die Stadt ja nicht mit Nato-Stacheldraht absperren", sagt Behr - eine Frage der Verhältnismäßigkeit: "In einem demokratischen Rechtsstaat muss die Polizei immer riskieren, nicht als Sieger vom Platz zu gehen."

Dass die Polizei in Berlin durchgegriffen hat, lässt sich aus anderen Zahlen ablesen: Die Einsatzkräfte haben knapp 1000 Menschen vorübergehend festgenommen und laut einer ersten Bilanz 503 Ermittlungsverfahren eingeleitet, 238 davon wegen Teilnahme an einer verbotenen Versammlung. Das Versammlungsgesetz sieht dafür Geldbußen von bis zu "tausend Deutsche Mark" vor, also 500 Euro. Andere müssen mit Strafverfahren rechnen - wer Polizisten tätlich angegriffen hat ohnehin, aber auch, wer in Netzwerken wie Telegram Aufrufe wie "Kommt alle dorthin und unterstützt den Aufzug!!" versendet hat. Das Verbreiten von Aufforderungen zur Teilnahme an einer verbotenen Versammlung ist eine Straftat.

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