Süddeutsche Zeitung

Corona:Europas Verschwörungsgläubige demonstrieren in Brüssel

Warum der Corona-Protest in Belgiens Hauptstadt Zulauf aus ganz Europa findet - und am Ende in Gewalt mündet.

Von Josef Kelnberger, Brüssel

Eine "Mannschaft aus einer Million Menschen" hätte es werden sollen in Brüssel. So gesehen war die von Szenen der Gewalt geprägte Großdemonstration gegen die Corona-Auflagen am Sonntag mit ihren mindestens 50 000 Teilnehmern ein glatter Misserfolg.

Allerdings war der Slogan der Veranstalter auch gedacht als Veralberung des belgischen Ministerpräsidenten Alexander De Croo. Der hatte zu Beginn der Pandemie gefordert, "eine Mannschaft aus elf Millionen" - alle Belgierinnen, alle Belgier - solle gemeinsam gegen das Virus kämpfen. Das ist ein frommer Wunsch geblieben. Die Corona-Politik hat wie in vielen anderen europäischen Ländern einen Riss durch die Gesellschaft getrieben.

An mehreren Sonntagen zuvor hatten bereits Tausende Menschen in Brüssel gegen die Regierung demonstriert. Die auch in Belgien geführte Debatte über eine Impfpflicht hat der Szene noch einmal Auftrieb gegeben, außerdem wurden diesmal Unterstützer in ganz Europa mobilisiert. Fahnen aus Deutschland, den Niederlanden, Frankreich, Rumänien, Polen, sogar aus den USA waren bei dem Aufmarsch zu erkennen, der auch durch das Europaviertel führte.

Als offizieller Veranstalter trat eine Gruppe namens "European United" auf, die offenbar seit März 2021 besteht. Als deren "Präsident" gab sich Tom Meert zu erkennen, ein Informatiker aus der flämischen Stadt Löwen. Gegenüber der Tageszeitung Le Soir sagte er, bis zur Pandemie sei er ein gänzlich unpolitischer Mensch gewesen. Nun nimmt er für sich in Anspruch, mit seiner Gruppe eine öffentliche Debatte in Gang zu setzen und die freiheitliche Demokratie zu verteidigen gegen eine Politik, die zu "totalitären Werkzeugen" greife. Die Organisation "World Wide Demonstration" sowie mehrere Hundert lokale Gruppen Gleichgesinnter in ganz Europa stünden an ihrer Seite, sagte er.

Die Aufrufe zu der Demonstration wurden im Wesentlichen über den Messengerdienst Telegram verbreitet. Geworben wurde auch mit einer "Gästeliste", auf der Protagonisten aus der Szene der europäischen Verschwörungsgläubigen zu finden waren. Die meisten ausländischen Redner, die das Wort in Brüssel ergreifen sollten, waren laut Berichten belgischer Medien mit der Organisation "Children's Health Defense Europe" verbunden, einer Aktionsgruppe des radikalen Impfgegners Robert F. Kennedy Jr., der die Corona-Politik in eine Reihe mit NS-Verbrechen stellt.

Gewaltbereite Extremisten von ganz rechts und ganz links, viele von ihnen aus dem Ausland, nutzten die Demonstration zu Angriffen auf die Polizei. Wie diese mitteilte, wurden mindestens 230 Personen festgenommen. Drei Polizisten und zwölf Demonstrierende wurden ins Krankenhaus gebracht. Die Polizei, teilweise überrollt von der Gewalt, setzte Tränengas und Wasserwerfer ein. Am Gebäude des Europäischen Auswärtigen Dienstes gingen Fensterscheiben zu Bruch. Belgiens Regierungschef Alexander De Croo verurteilte die Ausschreitungen. "Jeder ist frei, seine Meinung auszudrücken", sagte er. "Aber unsere Gesellschaft wird niemals die blinde Gewalt tolerieren."

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