Süddeutsche Zeitung

Corona-Politik:Was richtig war, was wegkann

Ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis fordert eine Kommission, die alle Maßnahmen seit Beginn der Pandemie überprüft - und so auch Verschwörungserzählungen entgegenwirkt.

Von Claudia Henzler, Stuttgart

Bund und Länder haben seit März eine Vielzahl von Entscheidungen getroffen, um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen. Der Verband "Mehr Demokratie", der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, der Bund der Steuerzahler und Foodwatch haben nun konkrete Pläne gefordert, um die politischen Entscheidungen konstruktiv-kritisch zu überprüfen. Angesichts der vielfältigen Maßnahmen, die bis zu der Einschränkung von Grundrechten reichten, müssten diese "gründlich, solide und sachlich" ausgewertet werden, sagt Ralf-Uwe Beck, Vorstandssprecher des Vereins "Mehr Demokratie".

Den vier Verbänden, die sich auf Initiative Becks an die Fraktionen im Bundestag gewandt haben, geht es dabei nicht um eine Anklage. "Deutschland hat im weltweiten Vergleich die direkten gesundheitlichen Folgen der Corona-Krise gut gemeistert", heißt es anerkennend in einer gemeinsamen Mitteilung der Verbände. "Die besonnene Reaktion der Politik und einer großen Mehrheit der Bevölkerung haben Schlimmeres verhindert." Doch Fehlerkultur gehöre zu einer Demokratie dazu, sagt Beck. Diese müsse in der Lage sein, ihre Entscheidungen zu überprüfen. Dass die Politik in der Krise auch mal unsicher war, sei verständlich und sympathisch. Sie könne aus der Aufarbeitung Lehren für weitere Krisen ziehen. Zudem könne eine offene Diskussion dazu beitragen, gesellschaftliche Gräben zu überwinden, die durch Corona sichtbar geworden seien.

Wenn es nach den vier Verbänden geht, die sich als Stimmen der Zivilgesellschaft verstehen, soll von einem Gremium auf Bundesebene untersucht werden, wie wirksam und verhältnismäßig die einzelnen Maßnahmen waren, die während der Pandemie ergriffen wurden - sowohl die Einschränkungen als auch die milliardenschweren Hilfspakete. Es soll auch erörtert werden, wie Entscheidungen zustande gekommen sind und wer dabei beratend tätig war. "Was waren das für Gremien, war das transparent genug?", sind Fragen, die nach Becks Ansicht geklärt werden sollten, "auch um rauszukommen aus diesen Verschwörungserzählungen". Schließlich sollen die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern sowie die Beschlüsse der einzelnen Landesregierungen beleuchtet werden, auch wenn das Gremium auf Bundesebene angesiedelt werden soll.

Konkret schlagen die Verbände die Einberufung einer Parlamentskommission vor, die zur Hälfte mit Abgeordneten des Bundestags und zur Hälfte mit Vertretern der Zivilgesellschaft besetzt wird. Zusätzlich wünschen sie sich die Schaffung eines Bürgerrats, dessen Mitglieder per Los ausgewählt werden und der die Ergebnisse der Kommission bewertet. Das alles müsse nicht sofort passieren, sagt Beck. Es sei jedoch wünschenswert, dass die Politik jetzt verlässlich eine solche Aufarbeitung ankündige. Der Beginn der neuen Legislaturperiode könne ein sinnvoller Zeitpunkt sein, um eine Kommission einzusetzen.

War es richtig, Spielplätze zu sperren?

Die Evaluation soll also nicht der Vorbereitung auf einen möglichen Anstieg der Infektionszahlen im Herbst dienen. Tatsächlich stellen sich Regierungen und Kommunen aber recht konkret die Frage, wie sie reagieren sollen, wenn sich das Virus wieder rasanter und diffuser ausbreiten würde und nicht mehr mit lokal begrenzten Maßnahmen eingefangen werden kann.

Momentan setzen Städte und Länder auf möglichst minimalinvasive Mittel und wählen zum Beispiel lieber ein Alkohol- als ein Kontaktverbot. Das nächtliche Alkoholverbot in München wurde allerdings am Dienstag vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof gekippt. Die Stadt München hat vergangene Woche außerdem angekündigt, dass sie die Betreuung in ihren Tagesstätten flächendeckend auf Kinder bestimmter Berufsgruppen begrenzen werde, wenn die Infektionszahlen auf mehr als 50 pro 100 000 Einwohner steigen sollten.

Muss man damit rechnen, dass die alten Corona-Verordnungen schrittweise wieder eingeführt werden? Dazu sind bisher wenig konkrete Pläne bekannt. Auch eine politische Bewertung der Instrumente, die im Frühjahr angewendet wurden, fehlt. Man weiß zwar, dass es vor allem die weitreichenden Einschränkungen der Kontakte war, die den Verlauf der Pandemie gebremst haben. Offen ist aber, wie viel etwa die Sperrung von Spielplätzen oder das Betriebsverbot für Friseure dazu beigetragen haben und welche Maßnahmen durch Teststrategien, Schutzmasken oder Belüftungskonzepte verzichtbar wären.

In Baden-Württemberg arbeitet derzeit eine ressortübergreifende Arbeitsgruppe, an der auch die kommunalen Spitzenverbände beteiligt sind, an einem Strategiepapier, das solche Fragen berücksichtigen soll. Geplant ist offenbar ein Katalog mit möglichen Maßnahmen aus verschiedenen Lebensbereichen, die je nach Lage zum Einsatz kommen können. Details sind bisher nicht bekannt. Es soll kommende Woche im Kabinett beraten werden.

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SZ vom 02.09.2020/jael
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