Es dauerte bis Anfang Juni, bis der Epidemiologe Predrag Kon öffentlich Entwarnung gab. Am 1. Juni erklärte das Mitglied des Corona-Krisenstabes der serbischen Regierung im Staatsfernsehen: "Wir sind objektiv nicht mehr in der Epidemie". Zwei Tage später trat der angesehene Fachmann im Fernsehsender TV Pink erstmals wieder ohne Schutzmaske auf und gab den Serben Ratschläge für ihr weiteres Verhalten. "Jetzt, da wir zum Ende (der Pandemie, d.Red.) gekommen sind, müssen wir nur die Distanz aufrechterhalten, die wir von zwei auf einen Meter verringern können", sagte Kon.
Nicht nur beim EU-Kandidaten Serbien wurden Beschränkungen aus Wahlgründen gelockert
Serbiens Regierende haben Grund für das Ausrufen des Pandemieendes. Am kommenden Sonntag werden Parlament und lokale Vertretungen neu gewählt. Präsident Aleksandar Vučić will seine Dominanz über das Sieben-Millionen-Einwohner-Land festigen und seiner Partei SNS über 50 Prozent der Stimmen bringen. So hob Serbien nicht nur den seit März geltenden Ausnahmezustand und eines der schärfsten Anti-Corona-Regime Europas auf, sondern verkündete gleich das Ende der Pandemie. Auf Plakaten und in Wahlspots war der seit März oft täglich mit Warnungen und drastischen Verboten auftretende Präsident nun als scheinbarer Sieger über die Pandemie zu sehen.
Die Serben genossen die zurückgewonnene Freiheit - und eine von Vučić gewährte Corona-Sonderzahlung von 100 Euro für alle Erwachsenen. Ob auf Flanierboulevards an der Donau, in Restaurants und Cafés oder in Belgrads Einkaufszentren: Viele sind so voll wie vor der Pandemie, kaum jemand trägt eine Schutzmaske, fast niemand beachtet das Abstandsgebot. Die wenig überraschende Folge: Die Ansteckungszahlen schießen wieder in die Höhe. Wurden zum gefeierten Ende der Epidemie am 1. Juni nur 18 neu Infizierte identifiziert, so sind es jetzt wieder bis zu 96 täglich. Und während Experten in Regierungsmedien beschwichtigen, es gebe "keinen Grund zur Panik", schloss Epidemiologe Kon eine Rückkehr zu harten Maßnahmen am Samstag nicht mehr aus.
Nordmazedonien meldete am Samstag so viele Neuinfizierte wie nie zuvor in der Corona-Krise
Nicht nur beim EU-Kandidaten Serbien werden Corona-Beschränkungen aus Wahlgründen vorschnell gelockert. Das zwei Millionen Einwohner kleine Nordmazedonien hatte mit konsequentem Vorgehen die Zahl der Neuansteckungen am 3. Mai auf nur fünf Neuinfizierte gesenkt. Doch das Land wird von einer Übergangsregierung verwaltet; eigentlich sollte im April gewählt werden, nun planen die Regierenden eine Wahl im Juni oder Juli. Gegen ärztlichen Rat wurden Cafés und Restaurants wieder geöffnet, Christen durften Ende April das orthodoxe Osterfest feiern, Muslime Ende Mai das Ende des Fastenmonats Ramadan. Die Folge: Die Ansteckungszahlen explodierten bis Anfang Juni auf über 100 täglich. Am 30. Mai verhängte die Regierung wieder den Ausnahmezustand und weitreichende Ausgangssperren. Geholfen hat es wenig: Am Samstag meldete Nordmazedonien 194 neue Infizierte - die höchste Zahl seit Beginn der Corona-Krise.
Einen ähnlichen, zweifelhaften Rekord musste am 5. Juni auch Polen melden. Dort wird am 28. Juni der Präsident neu gewählt. Die Regierung und der aus den Reihen der Regierungspartei PiS stammende Präsident verkaufen ihr Wirken in der Coronakrise als ungebrochene Erfolgsgeschichte. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki behauptete, Polen habe "die Pandemie viel geschickter unter Kontrolle bekommen als die reichsten Länder der Welt, die Länder Westeuropas".
Präsident Duda lobte am 6. Juni die Regierung bei einem Wahlkampfauftritt ohne Maske vor Hunderten von Menschen für "reife Entscheidungen ganz von Beginn bis zum Ende" der Pandemie. Das Staatsfernsehen TVP feierte die angebliche "Rückkehr zum normalen Leben". So wurde in Polen die umfassende Maskenpflicht weitgehend aufgehoben, ebenso Begrenzungen in Geschäften, Einkaufszentren oder Kirchen.
Und so meldete Polen am 5. Juni gleich 599 neu Infizierte. Am Samstag und Sonntag waren es zusammen 1015. Der Warschauer Immunologe Paweł Grzesiowski hält die offiziellen Zahlen zu Ansteckungen und Corona-Opfern für mehrfach untertrieben - und die Lockerungen ebenso für falsch wie der Łodzer Medizinprofessor Andrzej Bednarek. In Modellen für den Fortgang der Epidemie überschlug Bednarek, der Höhepunkt der Pandemie werde in Polen erst im Oktober oder November erreicht, und bis dahin würden sich mehrere weitere Millionen Polen anstecken, so die Gazeta Wyborcza. Die Entscheidung über Polens nächsten Präsidenten ist bis dahin freilich längst gefallen.