Corona-Pandemie:"Ein Charaktertest für die Gesellschaft"

Erstmals seit dem Frühjahr hat das Robert-Koch-Institut mehr als 4000 Neuinfektionen gemeldet. Gesundheitsminister Spahn appelliert an die Bevölkerung, die Corona-Regeln einzuhalten.

Von Kristiana Ludwig, Berlin

Nachdem die Gesundheitsämter am Donnerstag mehr als 4000 positive Tests auf das Coronavirus innerhalb eines Tages gemeldet hatten, hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) die Bevölkerung zur Vorsicht aufgerufen. Man müsse nun auf enge Kontakte mit vielen Menschen in geschlossenen Räumen verzichten, sagte er. Es gelte zu verhindern, dass es zu einem Moment komme, "wo wir die Kontrolle verlieren". Die Pandemie sei "ein Charaktertest für uns als Gesellschaft". Künftig komme es neben genügend Abstand, Händewaschen und Masken auch besonders auf gut gelüftete Räume an. Die Corona-Warn-App sei ebenfalls ein wichtiges Instrument, um das Virus zu bremsen.

Der Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, warnte vor einer bedrohlichen Entwicklung der Infektionen. "Es ist möglich, dass wir mehr als 10 000 neue Fälle pro Tag sehen. Es ist möglich, dass sich das Virus unkontrolliert verbreitet", sagte er. "Die aktuelle Situation beunruhigt mich sehr." Man könne nicht wissen, wie sich die Lage in Deutschland in den kommenden Wochen entwickeln werde. Allein innerhalb der vergangenen 24 Stunden war die Zahl der Corona-Infizierten um bundesweit mehr als 1200 Menschen gestiegen.

Betroffen seien zwar im Augenblick überwiegend junge Menschen, aber nicht nur. "Wir sehen leider auch wieder mehr Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen sowie in Krankenhäusern", sagte Wieler, und dies führe mittlerweile auch wieder zu schwereren Krankheitsverläufen. Derzeit lägen in Deutschland etwa 470 Menschen mit Covid-19 auf der Intensivstation, doppelt so viele wie noch vor vier Wochen. Auch die Verbreitung des Virus habe sich verändert. Im Sommer hatten vor allem Urlaubsrückkehrer Corona mitgebracht. Reisende seien jetzt allerdings nur noch für etwa acht Prozent aller Fälle verantwortlich.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte: "Ich möchte nicht, dass sich eine Situation wie im Frühjahr wiederholt." Angesichts der stark steigenden Infektionszahlen wolle sie sich am Freitag mit den Oberbürgermeistern der elf größten deutschen Städte beraten, heißt es in Regierungskreisen. Dabei soll es um die Frage gehen, was getan werden kann, um hier die schnelle Ausbreitung einzudämmen. Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) sprach angesichts der deutlich gestiegenen Infektionszahlen vom Beginn einer zweiten Infektionswelle. Sollte sich der Trend fortsetzen, "dann können wir es nur noch durch sehr einschneidende Maßnahmen aufhalten", warnte er.

Berlin und Frankfurt überschritten am Donnerstag den Inzidenzwert von 50 Fällen pro 100 000 Einwohner.

Gesundheitsminister Spahn machte deutlich, dass aus seiner Sicht die Corona-Regeln weniger drastisch ausfallen müssten als noch im Frühjahr. Geschäfte sollten etwa geöffnet bleiben, weil die Erfahrung gezeigt habe, dass die Gefahr hier gering sei. Auch Friseure sollten weiterarbeiten dürfen. Im öffentlichen Nahverkehr habe es ebenfalls keine größeren Ausbrüche gegeben. Gottesdienste sollen möglich bleiben, wenn sich die Gemeinde an Abstands- und Hygieneregeln hält.

Im Augenblick habe das Gesundheitssystem noch ausreichend Kapazitäten, sagte der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen. Derzeit seien 8500 Betten für Intensivpatienten frei, dies seien mehr als die Gesamtkapazität von Italien und Spanien. Zudem gebe es eine Notfallreserve von etwa 12 000 Betten. RKI-Chef Wieler sagte, in Krankenhäusern und Pflegeheimen sei das Bewusstsein für Hygienemaßnahmen durch die Pandemie gestiegen. Hier sei es besonders entscheidend, dass gute Konzepte zum Schutz vor Infektionen umgesetzt würden, etwa durch Testungen des Personals. Man wisse heute wesentlich mehr über die Beschaffenheit des Virus: "Wir können das beherrschen", sagte Wieler: "Das ist der Grund, weswegen ich deutlich optimistischer bin für diesen Winter und Herbst."

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