Süddeutsche Zeitung

Corona-Pandemie:Die Suche nach dem Mittelweg

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Während Belgien im Kampf gegen das Virus Geschäfte und Restaurants schließt, setzt die Schweiz mehr auf Eigenverantwortung. Die Slowakei dagegen probiert es mit Massentests.

Von Karoline Meta Beisel, Viktoria Großmann und Isabel Pfaff, Brüssel/Bern/München

In Belgien scheint es ein bislang unbekanntes Naturgesetz zu geben: Wenn die Corona-Zahlen besonders schlimm sind, ist das Wetter am besten. Pünktlich zum Start der Herbstferien in dieser Woche ist die Sonne zurück, und so ähnelten die Bilder im Stadtzentrum von Brüssel am Dienstagmorgen jenen aus dem Frühjahr: Leere Plätze unter blitzblauem Himmel, denn in Belgien gelten erneut strenge Corona-Regeln: Seit Montag haben bis auf Supermärkte, Apotheken und Buchläden alle Geschäfte wieder geschlossen. Die Restaurants sind bereits seit einigen Wochen zu, wie schon im Frühjahr haben viele auf Lieferdienst umgestellt. All das gilt vorerst bis Mitte Dezember.

In den Wohnvierteln ist von der Veränderung weniger zu spüren, denn einen "Lockdown" gibt es nicht: Anders als im Frühjahr darf jeder, der will, seine Wohnung ohne besondere Begründung verlassen. Lediglich zwischen 22 Uhr und sechs Uhr morgens gilt eine Ausgangssperre. An manchen der Maßnahmen gibt es Kritik, aber prinzipiell zweifelt keiner daran, dass sie nötig sind: Denn mit einer 14-Tage-Inzidenz von gut 1750 Infektionen im landesweiten Durchschnitt ist kein Land in Europa so heftig betroffen wie Belgien.

Am Dienstag wurden drei Intensivpatienten nach Deutschland ausgeflogen

Ein weiterer Rekord, auf den man hier gerne verzichten würde: Noch nie mussten in Belgien so viele Covid-Patienten wie jetzt stationär behandelt werden - derzeit sind es 7231, das sind mehr als 400 mehr als zum ersten Höhepunkt der Pandemie im Frühjahr. In manchen Gegenden sind die Krankenhäuser bereits jetzt überlastet, aus Brüssel und Lüttich werden Patienten in andere Regionen verlegt. Einige Patienten wurden inzwischen auch nach Deutschland ausgeflogen, zuletzt an diesem Dienstag drei aus Lüttich.

Immerhin: In den vergangenen Tagen scheint sich die Zahl der Neuinfektionen zu stabilisieren: Die Kurve steigt zwar weiter an, aber nicht mehr so steil wie bislang.

Auch in Belgien fragt man sich, warum die Lage erneut ausgerechnet hier so dramatisch ist, denn seit Beginn der Pandemie sind die Regeln im Vergleich zu Deutschland stets strenger gewesen, und die Akzeptanz ist hoch. Die flämische Virologin Erika Vlieghe sagte am Wochenende, die eine, einfache Erklärung gebe es nicht. Letztlich sei die Ursachensuche aber derzeit auch nicht so wichtig: Alle Energie werde dazu gebraucht, mit der Situation jetzt umzugehen.

Auch in der Schweiz gibt es praktisch keine Kennzahl mehr, die nicht alarmierend wäre. Die täglichen Corona-Neuinfektionen haben vor einigen Tagen fast die 10 000-Marke geknackt, die 14-Tage-Inzidenz liegt momentan bei über 1000 Fällen pro 100 000 Einwohner, inzwischen ist fast jeder dritte Covid-19-Test positiv - und die Anzahl der Covid-Patientien im Krankenhaus sowie die Todesfälle steigen exponentiell. Damit befindet sich die Schweiz unter den am schwersten betroffenen Staaten in Europa.

Nur: Im Gegensatz zu den meisten Nachbarstaaten gilt hier kein landesweiter Shutdown oder Lockdown. Noch immer entscheiden vor allem die Kantone, nicht die Bundesregierung über die Eindämmungsmaßnahmen. Und so gibt es seit dem 29. Oktober zwar ein paar schweizweit gültige Regeln - weitreichende Maskenpflicht im öffentlichen Raum, Sperrstunde für Bars und Restaurants von 23 bis sechs Uhr, Schließung von Diskotheken, Verbot privater Anlässe mit mehr als 10 Personen, Veranstaltungsobergrenze von 50 Personen -, aber sonst große Unterschiede: Während man vor allem in der Deutschschweiz auf Eigenverantwortung setzt, verhängen die heftig betroffenen Kantone der Romandie strengere Maßnahmen.

Dutzende Schweizer Ökonomen fordern einen Lockdown

In Genf gilt seit Montag der Ausnahmezustand: Läden mit nicht lebensnotwendigen Gütern mussten schließen, außerdem auch Restaurants, Kinos, Theater und Museen. Auch Neuchâtel fährt das öffentliche Leben teilweise herunter. Im Wallis, wo schon seit fast zwei Wochen ein strenges Regime gilt, ist das Spital der Hauptstadt Sion derart belastet, dass nach einem Bericht der NZZ nun erstmals ein Covid-19-Patient abgewiesen wurde, weil bei ihm zu wenig Heilungschancen bestanden. Auch aus Fribourg kommen erste Hilferufe aus den Krankenhäusern.

Zwar steigen die offiziellen Zahlen seit wenigen Tagen nicht mehr ganz so stark an, aber dennoch bleibt die Frage, warum die Schweizer Regierung, der Bundesrat, sich mit harten Maßnahmen weiterhin zurückhält. Ein Grund dürfte die Angst vor ökonomischen Verlusten sein, stets ein wichtiges Argument in der wirtschaftsliberalen Schweiz. Erst vor Kurzem äußerte sich Finanzminister Ueli Maurer entsprechend auf der Delegiertenversammlung seiner Partei: "Wir haben nicht noch einmal 30 Milliarden", sagte er mit Verweis auf die staatlichen Corona-Hilfen. Bei neuen Corona-Maßnahmen müsse man deshalb immer auch an deren Folgekosten denken.

In einem am Montag veröffentlichten offenen Brief versuchen nun Dutzende Schweizer Ökonomen den Bundesrat davon zu überzeugen, dass die Folgen einer starken Ausbreitung des Virus, wie sie im Moment zu beobachten ist, nicht nur menschlich, sondern auch wirtschaftlich verheerend sind. Sie plädieren deshalb für einen zweiten Lockdown, begleitet von neuen Staatshilfen. "Mit dem bestehenden Verschuldungsgrad und den Verschuldungsmöglichkeiten der öffentlichen Hand sind solche Maßnahmen bei einem Jahrhundertereignis wie der Pandemie angemessen und tragbar."

Einen ganz anderen Weg erprobt die ebenfalls stark vom Virus heimgesuchte Slowakei: flächendeckendes Testen, um einerseits die Infektionsketten zu unterbrechen und andererseits einen Lockdown zu vermeiden. Mehr als 3,6 Millionen Menschen haben sich am Wochenende in der Slowakei auf das Coronavirus testen lassen - etwa 38 000 erhielten ein positives Ergebnis und müssen in Quarantäne. Bei einer Bevölkerung von 5,4 Millionen Menschen hat die Regierung damit ihr Ziel, alle Einwohner über zehn Jahre testen zu lassen, fast erreicht. Der Verteidigungsminister hatte zuvor erklärt, der Massentest sei "die einzige Alternative zum Lockdown". Die Teilnahme war freiwillig. Wer allerdings nicht teilnahm, der muss diese Woche weiterhin strikt zu Hause bleiben. Für alle anderen - mit negativem Testergebnis - ist die Ausgangssperre, die seit einer Woche galt, beendet.

Nun soll es am kommenden Wochenende eine zweite Runde geben, dort, wo mehr als 0,7 Prozent der Bevölkerung infiziert sind. Regelmäßig sollen zukünftig außerdem etwa Krankenschwestern und Polizisten getestet werden; auch Grenzpendler müssen sich alle 14 Tage testen lassen.

Steckt hinter der Testkampagne bloßer Aktionismus des populistischen Premiers?

Doch so sehr die logistische Leistung anerkannt wird und so bereitwillig die Menschen sich am Wochenende teils in langen Schlangen vor den improvisierten Stationen anstellten, in denen auch Studenten und das Militär aushalfen, so umstritten ist dennoch diese Maßnahme. Ist es bloßer Aktionismus des populistischen Premiers? Wie oft kann man solche Massentests machen - und beanspruchen sie nicht notwendige Kapazitäten an Ausrüstung und Fachleuten, die im Krankenhaus gebraucht würden?

Davor warnte Präsidentin Zuzana Čaputová, die auch mahnte, nicht jene zu diskriminieren, die an den Tests nicht teilnehmen können oder wollen. Eingesetzt wurden Antigen-Tests, die rasch ausgewertet werden können, ohne dass es dazu ein Labor braucht. Sie werden in Deutschland etwa in Krankenhäusern und Pflegeheimen benutzt. Das Robert-Koch-Institut erklärt dazu jedoch, dass ein positives Ergebnis eines Antigen-Tests grundsätzlich durch einen PCR-Test bestätigt werden muss.

Während das südliche Nachbarland Ungarn am Dienstag den Notstand ausrief und eine nächtliche Ausgangssperre verhängte, sollen beim nördlichen Nachbarn Tschechien nun ebenfalls Massen-Antigen-Tests gemacht werden. Wie der Gesundheitsminister sagte, sollen zunächst Mitarbeiter und Bewohner in Senioren- und Pflegeheimen regelmäßig alle fünf Tage getestet werden. Geplant war auch bereits, die Bevölkerung im Bezirk Zlín im Südosten testen zu lassen. Die Gegend hat zwar mit etwa 830 Infizierten auf 100 000 Einwohner längst nicht die höchste Infiziertenzahl, doch das Gesundheitssystem ist dort am Rande der Belastbarkeit. Weil das von Bezirk zu Bezirk unterschiedlich ist, wird eine zentrale Bettenvergabe eingerichtet.

In den vergangenen Tagen sind die Zahlen leicht gesunken, der Reproduktionswert verringert sich - dennoch sind die Zahlen häufig ähnlich hoch wie im viel größeren Deutschland. Die Opposition kritisiert das unkoordinierte Vorgehen der Regierung heftig.

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