Süddeutsche Zeitung

Corona-Pandemie:Abstand und Anstand

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Die Hölle, das sind natürlich immer die anderen. Trotzdem kann man erstaunlicherweise auch selbst zur Eindämmung der Seuche beitragen.

Von Werner Bartens

Das Leben wäre erheblich einfacher, wenn nur die anderen nicht wären. Diese Erkenntnis stellte sich schon vor der Pandemie gelegentlich ein, in Zeiten von Abstandsgeboten drängt sie sich geradezu auf. Als Jean-Paul Sartre seinen Protagonisten im Stück "Geschlossene Gesellschaft" sagen ließ, "die Hölle, das sind die anderen", war das zwar anders gemeint. Als das Stück 1944 erschien, gab es jedoch auch keine Seuche, jedenfalls keine virale.

Und heute sind es nun mal die anderen, die sich in der Fußgängerzone ungebührlich nahe vorbei drängen, die auf dem Waldweg beim Joggen aus dem letzten Loch pfeifen und deshalb umso heftiger keuchend ihre Aerosol-Wolke als potenziell infektiösen Sprühnebel verwirbeln. Und an der Kasse oder vor der Käsetheke übertreten sie, also die anderen, mutwillig die schreiend rote Markierung, wobei unklar bleibt, ob dies den Kampf für ihre Freiheitsrechte symbolisieren soll - oder sie schlicht von der bunten Farbe angezogen werden wie Motten vom Licht.

Wer eine Maske trägt, erwirbt damit nicht die Lizenz zur Nähe

Das Standardwerk von Max Goldt gegen die Aufdringlichkeiten des Alltags heißt "Vom Zauber des seitlich dran Vorbeigehens" und ist deshalb unverzichtbares Vademecum für die Stubenhocker, Couch-Potatoes und Zurückgebliebenen, die wir jetzt alle werden sollen. Man selbst macht natürlich alles richtig, klar. Aber in diesen Tagen reicht es nicht, die anderen zusätzlich zum Abstand auch an Anstand, gute Manieren und Rücksichtnahme zu erinnern. Da jetzt "vier schwere Wintermonate vor uns liegen", wie Kanzlerin Merkel und die Regierungsoberen der Länder am Montag in großer kalendarischer Weisheit beschlossen haben, wurde vereinbart, "alle nicht erforderlichen Kontakte unbedingt zu vermeiden" und "Kontakte zu anderen Menschen außerhalb der Angehörigen des eigenen Hausstands auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren".

Eigentlich kennen wir diese Aufforderungen seit März. Eigentlich ist es nicht schwer zu verstehen, was Kontakte reduzieren heißt, dazu muss man kein promovierter Astrophysiker sein. Allerdings liegt in der Ausnahme "erforderlich" und der Einschränkung "absolut nötiges Minimum" das Problem. Wer sich selbst für ausreichend bedeutend hält, der findet seine Treffen, Kontakte, Reisen nun mal zwingend erforderlich und absolut nötig. Nicht jedem ist die Größe gegeben, die Gerhard Polt einst bewies, als er auf eine Einladung zur Talkshow von Sabine Christiansen antwortete, dass er leider nicht könne, weil er um diese Zeit meistens zu Hause sei. "Ich wohne nämlich gern", fügte er als Erklärung hinzu.

Für alle anderen sei deshalb noch mal durchbuchstabiert, was es heißt, Kontakte zu reduzieren. Zunächst: Wer eine Maske trägt, erwirbt damit nicht die Lizenz zur Nähe, zum sich in der Schlange auf die Hacken steigen oder sich im Gespräch aneinander drücken, "weil man sich durch die Maske so schlecht versteht". Erst recht, wenn es sich bei den Maskierten um die endemisch auftretenden Oben-ohne-Träger handelt, bei denen die Nase frei liegt oder sie sich mit so fadenscheinigen Stoffen bedecken, dass jedes Netzhemd dagegen wie ein Neoprenanzug wirkt.

Und wenn jetzt dringend von Politikern, "jenseits von Ge- und Verboten", appelliert wird, sich bei Erkältungssymptomen ein paar Tage zu Hause zu isolieren und in der Familie Distanz zu wahren, dann gilt dies auch für das aufgeklärte Elternpaar. Obwohl es sich doch immer an alle Vorgaben gehalten hat und sich überhaupt nicht vorstellen kann, sich angesteckt zu haben - wenn denn die anderen nicht wären, siehe oben.

Und auf private Feiern zu verzichten, bedeutet eben nicht nur, dass sich die zügellose Feierjugend zusammenreißt und nicht mehr ihre Exzesse in Grünanlagen, WG-Sitzgruppen und elterlichen Partykellern zelebriert, falls es letztere noch gibt. Dazu gehört genauso der bierselige Bundesliga-Abend der Fiftysomethings oder die ausufernde Teerunde der besten Freundinnen. Und auch die kürzlich gaaanz coronakonforme St.-Martins-Feier im Garten ist dazuzuzählen, auch wenn die Eltern, die sich um das Feuer scharten, beteuerten, dass sie "Kindern doch die Freunde nicht verbieten können".

Reisen, Tagestouren, "nur so" in die Stadt fahren - das sollte alles nicht sein

Sie könnten aber erklären, warum sich derzeit alle einschränken sollten - nicht nur die anderen. Dazu gehört beispielsweise auch, die Ansage, "private Zusammenkünfte mit Freunden und Bekannten auf einen festen weiteren Hausstand beschränken" nicht witzelnd falsch verstehen zu wollen. Nein, da soll nicht jeweils nur ein Hausstand zu Gast sein, wenn man sich mit Freunden trifft und beim nächsten Mal ein anderer. Vielmehr geht es in dieser ungemütlichen Zeit darum, sich ausnahmsweise mal festzulegen und zu beschränken. Kinder wie Erwachsene gleichermaßen. Drinnen wie draußen, auch wenn gerade nicht kontrolliert wird.

Reisen, Tagestouren, mit öffentlichen Verkehrsmitteln "nur so" in die Stadt fahren - das sollte alles derzeit nicht sein. Ist im November sowieso nicht so attraktiv. Die Genfer Virologin Isabella Eckerle hat kürzlich etliche Beispiele aufgeführt, die zeigen, wie die "Summe der vielen Alltagsentscheidungen jedes Einzelnen" den Ausschlag geben kann. Sie bestimmen, ob Infektionsketten unterbrochen werden oder weiter neue Höchststände an Infizierten vermeldet werden. Jeder Verzicht trägt womöglich dazu bei, dass neue Ansteckungsreihen, die hätten entstehen können, nun nicht angestoßen werden. Es kommt auf viele Kleinigkeiten an. Das klingt nach kleinen Schritten und recht kirchentagsbesinnlich. Im nahenden pandemischen Advent muss das aber nicht die schlechteste Stimmungslage sein.

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