Süddeutsche Zeitung

Corona-Maßnahmen:Lockerung auf eigenes Risiko

Die Länder treiben die Öffnung voran, die Kanzlerin lässt sie weitgehend gewähren. Allerdings übernehmen die Ministerpräsidenten damit auch die Verantwortung, wenn es schiefgeht.

Von Nico Fried, Berlin

Die Kanzlerin hält ein paar Din-A4-Seiten in der Hand. Ob das dieses Heft des Handelns ist, das in den vergangen Tagen so viel beschrieben wurde? Es ist Mittwoch, später Nachmittag im Kanzleramt. Angela Merkel kommt zur Pressekonferenz. Wie immer nach den Schaltgesprächen mit den Ministerpräsidenten in diesen Corona-Wochen wird sie von Markus Söder (CSU) aus Bayern und Peter Tschentscher (SPD) aus Hamburg umrahmt. Die Kanzlerin wird gleich einiges zu erklären haben, zum Beispiel, ob sie überhaupt noch etwas zu sagen hat.

Reihenweise hatten zahlreiche Ministerpräsidenten in den vergangenen Tagen im Alleingang für ihre Bundesländer Lockerungen verkündet, Fahrpläne für den Weg in eine neue Normalität mit Corona beschrieben, Perspektiven aufgezeigt, einen Bayern-Plan präsentiert. Umfang und Eile der Alleingänge wirkten wie ein Aufstand gegen Angela Merkels Politik der Behutsamkeit, für die sie noch vor einer Woche geworben hatte. Die Kanzlerin wollte Schritt für Schritt vorgehen, immer wieder abwarten, welche Folgen einzelne Lockerungen auf die Infektionszahlen haben würden.

Die meisten Ministerpräsidenten wollten das nicht. Nicht mehr.

Jetzt also sagt die Kanzlerin, man habe zuletzt eine "sehr, sehr gute Entwicklung bei den Infektionszahlen gehabt". Die Werte, die vom Robert-Koch-Institut gemeldet würden, seien "sehr erfreulich". Man könne die Infektionsketten nachvollziehen, habe die Pandemie verlangsamt und das Gesundheitssystem vor Überforderung geschützt. "Ziel erreicht", sagt Merkel. Das erlaube es, auch bei den Lockerungen weiter zu gehen. Aber gleich so weit?

Aus einem Elefanten eine Mücke zu machen, ist für Merkel Routine

Schon in der Videoschalte mit den Ministerpräsidenten, die um elf Uhr an diesem Mittwoch begann, hat Merkel zum Druck der Ministerpräsidenten nichts gesagt. Und auch in der Pressekonferenz viereinhalb Stunden später streift sie das Thema nur. Wegen der föderalen Vielfalt des Landes gebe es "unterschiedliche Akzente", sagt sie. "Das gehört dazu." Aus einem Elefanten eine Mücke zu machen, das ist für Merkel nach mehr als 14 Jahren Kanzlerschaft Routine. Aber die Frage, wie viel Kurswechsel von ihr stammt und wie viel ihr aufgezwungen wurde, wird später noch eine Rolle spielen.

Tatsache ist: Vieles geht jetzt schneller und nach dem Willen der Länder. Von der Kinderbetreuung bis zur Gastronomie, alles wird jetzt in den Landeshauptstädten geregelt. Andererseits übernehmen die Länder damit auch die Verantwortung, "eine große Verantwortung", wie Hamburgs erster Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) fast ein bisschen ehrfürchtig sagt.

Wenn nämlich die Zahl der Infektionen in einer Region über ein bestimmtes Maß steigt, muss das betroffene Land die Beschränkungen des öffentlichen Lebens wieder hochfahren. Es handelt sich also um nichts anderes als eine Obergrenze, diesmal aber - anders als im Flüchtlingsstreit mit der CSU vor einigen Jahren - um eine Obergrenze, die Merkel nicht strikt ablehnt, sondern für die sie sich stark gemacht hat.

"Wir haben nicht nur den Weg zu mehr Öffnung, sondern auch einen Notfallmechanismus" für den Fall wieder steigender Zahlen, sagt die Kanzlerin. Das sei ihr "sehr wichtig", so Merkel. Deshalb sei es ein ausgewogenes Ergebnis. Dass da in der einen oder anderen Region getrickst oder schlampig getestet werden könnte, um die Zahlen niedrig zu halten, glaubt Merkel nicht. Wenn man unterstelle, dass lokale Behörden, Bürgermeister und Landräte nicht ordentlich arbeiteten, "dann ist das nicht mehr unsere Bundesrepublik", sagt sie.

Auch in der Schaltkonferenz mangelte es Merkel offenbar nicht an Durchsetzungsfähigkeit. In der Diskussion um die Obergrenze, eine Idee ihres Kanzleramtsministers Helge Braun, hatten vor allem die Stadtstaaten Bedenken angemeldet. Anders als Flächenstaaten, in denen man nach Landkreisen unterteilen kann, fällt es in Berlin, Hamburg und Bremen wegen der Bevölkerungsdichte schwerer, Infektionsherde einzugrenzen. Im Zweifel könnten die Landesregierungen da schnell gezwungen sein, die Beschränkungen wieder über die ganze Stadt zu verhängen. Hier setzte sich Merkel nach Angaben von Teilnehmern dennoch vehement für die Regelung ein, die dann letztlich auch einmütig beschlossen wurde.

Strittig war auch die Frage, ob man der Vorschrift in Sachsen-Anhalt folgen und Begegnungen von bis zu 5 Personen erlauben solle. Merkel war dagegen, Bayerns Ministerpräsident Markus Söder ebenfalls. Die Kontaktbeschränkung sei "die Mutter aller Fragen", sagt Söder später. Am Ende stand ein Kompromiss, wonach sich nun Angehörige eines Hausstandes mit Angehörigen eines zweiten Hausstandes treffen können. Eine Familie kann also mit den Nachbarn essen. Damit bleibe es bei einer "klaren Kontaktbeschränkung", sagt Merkel in der Pressekonferenz.

Als die Schaltkonferenz sich in die Länge zog, mahnte Merkel etwas weniger ausufernde Vorträge an. Vor allem Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) fiel anderen Teilnehmern wiederholt durch eine gewisse Langatmigkeit auf. Nach Merkels Intervention folgten prompt drei Punkte ohne Wortmeldungen. Länger als geplant dauerte es trotzdem.

Ein bisschen mulmig dürfte es Angela Merkel schon noch sein

Ein Grund war eine ausführliche Diskussion über den Zeitpunkt für die Wiederaufnahme des Spielbetriebs in der Fußball-Bundesliga. Die SPD-Seite warnte vor einem drohenden Eindruck der Ungleichheit: Viele Familien hätten noch nicht einmal eine Notbetreuung für ihre Kinder, da könne man dem Fußball keine Vorzugsbehandlung gewähren. Ministerpräsidenten der Union zeigten dagegen Verständnis für die wirtschaftlichen Nöte der Bundesliga-Vereine, von denen einige in der Existenz bedroht seien. Letztlich einigte man sich auf einen Start "ab Mitte Mai".

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Vor wenigen Tagen noch hatte Merkel die Umsetzung erster Lockerungen in manchen Ländern als zu forsch bezeichnet. Nun fasst sie angesichts weitaus größerer Lockerungen zusammen: "Ich habe ein gutes Gefühl." Dass der Kanzlerin noch immer etwas mulmig ist, merkt man etwas später, als sie nachschiebt: "Wir gehen einen mutigen Weg. Das glaube ich schon."

Dass sie sich einen größeren Rest an Vorsicht bewahrt, wird noch an anderer Stelle erkennbar. Söder hatte gesagt, die Corona-Epidemie sei "unter Kontrolle". So weit wollte Merkel nicht gehen. Die Pandemie sei "einigermaßen unter Kontrolle", sagt die Kanzlerin. Und das sei auch immer nur "eine Momentaufnahme". Soll keiner sagen, sie habe nicht immer wieder gewarnt.

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Quelle:
SZ vom 07.05.2020/jobr
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