Corona-Krise:Merkels letzte Chance, Deutschland wachzurütteln

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So pathetisch wie in dieser TV-Ansprache hat man die Kanzlerin noch selten erlebt. Aber kann sie die Bürger überzeugen, ihren Beitrag im Kampf gegen das Virus zu leisten? Auf dem Spiel stehen die Grundlagen unserer Demokratie.

Kommentar von Stefan Braun, Berlin

Angela Merkel wollte so etwas nie tun. Eine Fernsehansprache in Notlage? Das hat sie immer abgelehnt, auch in schwersten Augenblicken. Da konnten die Banken in der Finanzkrise den Zusammenbruch fürchten; da konnten die deutschen Unternehmen in der Weltwirtschaftskrise um Unterstützung betteln. Ja, da konnte die Aufnahme von Hunderttausenden Flüchtlingen an den Nerven von Politikern, Parteien, Bürgermeistern und Helfern zerren - eine Ansprache ans Volk, gar ein pathetischer Appell kam für diese Kanzlerin nie infrage.

Daran muss man erinnern, damit klar wird, welche Bedeutung die Fernsehansprache der Kanzlerin am Mittwochabend hatte. Schon die Tatsache, dass es sie gab, war eine Sensation. Und die Botschaft an die Bevölkerung war unmissverständlich: Schlimmer kann die Krise kaum noch werden. Merkels Auftritt war der schon fast letzte Versuch, die Menschen wachzurütteln. Und er belegt eindrücklich, dass die Kanzlerin die Bedrohung durch Covid-19 für existenziell hält; existenziell für das Land als Ganzes, aber auch für jeden einzelnen Menschen. Deshalb ist es richtig und unverzichtbar gewesen, dass sie sich zu diesem Auftritt durchrang.

Wer in den vergangenen Tagen gesehen hat, wie viele Menschen auf den Straßen, in den Parks, in den Supermärkten alle bisherigen Warnungen in den Wind schlagen, hofft längst, dass die Regierung alles unternimmt, um diesen Leuten den Ernst der Lage bewusst zu machen. Was im Kern ja bedeutet: Haltet Abstand und verzichtet auf soziale Kontakte. Denn nur so können die besonders Gefährdeten, vor allem die Alten, geschützt werden. Schon die Schulschließungen sollten dazu beitragen. Dann folgte die Einschränkung des Geschäftslebens für die nicht lebenswichtigen Branchen. Geholfen hat das alles aber nicht, jedenfalls nicht so wie nötig. Also sprang Merkel über ihren Schatten und tat, was überfällig war: Sie hat einen dramatischen Appell an alle gerichtet.

Allerdings nutzte sie ihren Auftritt nicht dazu, das Allerhärteste zu verkünden. Sie hat keine Ausgangssperre angedroht; sie ist vor die Kameras gegangen, um ebendiese doch noch verhindern zu können. Merkel zeichnete zwar das Bild von der größten Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg, aber sie sprach nicht von "Krieg". Sie setzt nicht auf martialische Worte oder Gesten, sondern nach wie vor auf die Vernunft der Menschen. Sie hat also versucht, was sie seit zwanzig Jahren zum Herzstück ihres Handelns macht: nicht den großen Zampano geben, sondern mit Vernunft versuchen, Gutes zu bewirken und Schlimmes zu verhindern. Ob das reicht, weiß niemand. Aber ihre Tonlage wird zumindest nicht dazu führen, dass die Bevölkerung in Verunsicherung und Angst versinkt.

Mehr noch: Im Wissen um die Sorge, die viele derzeit bei der Preisgabe ihrer Grundfreiheiten umtreibt, hat Merkel auch das eigene Unbehagen und das dauernde Abwägen hervorgehoben. Für jene, die sich nach einer harten Hand sehnen, ist das sicher zu wenig. Demokraten aber, die in der aktuellen Not um ihre Freiheiten fürchten, erkennen darin die wohltuende Selbstbescheidung einer Regierungschefin. Merkel hat ihre Zweifel an solchen Auftritten überwunden und ist sich doch treu geblieben.

Mit einer Ausnahme freilich: Sie ist so pathetisch geworden, wie das öffentlich kaum jemand vorher von ihr erlebt hat. Sie hat die Wissenschaft verteidigt und vor den Verschwörern gewarnt. Sie hat an die Leute an "vorderster Linie" erinnert und den Blick auf jene gelenkt, die wie Pfleger und Kassiererinnen zu oft wenig Anerkennung erhalten, aber plötzlich zu entscheidenden Akteuren werden. Und sie hat denen ins Gewissen geredet, die vielleicht schon mit dem Gedanken liebäugeln, man solle für die besonders bedrohten alten Menschen nicht gleich den ganzen Wohlstand aufs Spiel setzen. Wer spürt, wie sehr Solidarität und sozialer Zusammenhalt in der Krise bedroht sind, kann ihr dafür nur danken.

Mit all dem zeigt Merkel indes auch, dass sie etwas gelernt hat. Dass sie heute anders agiert als zu Zeiten der Flüchtlingskrise. Niemand kann sicher sagen, was gewesen wäre, wenn sie damals das eigene Tun, die Motive, Abwägungen, Beschlüsse ähnlich ausgebreitet hätte. Aber viele haben bis heute das Gefühl, dass das gefehlt hat. Nun hat sie - fast schon einem Vermächtnis gleich - erklärt, zu "offenen Demokratien" gehöre es, dass Regierungen ihr Handeln "transparent" machen, "gut begründen und kommunizieren", damit es "nachvollziehbar" sei. Das ist nicht nur ein Satz. Es ist eine Selbstverpflichtung, hinter die sie nicht mehr zurückkann.

Angela Merkel hat die Lage als "dynamisch und offen" beschrieben. Offen ist leider auch die Antwort auf die Frage, ob die Kanzlerin mit diesem Auftritt Erfolg haben wird. Einem Auftritt, der vielleicht als ihr wichtigster, auf alle Fälle aber als ihr dramatischster in die Geschichte eingehen könnte. Nicht, weil sie das wollte. Weil sie es musste.

© SZ vom 20.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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