Süddeutsche Zeitung

Corona-Krise:Wie lange noch?

Um den Kampf gegen das Coronavirus zu beschleunigen, fordert das Innenministerium mehr Tests. Ein Land im Stillstand - und wie es diese Zeit nutzen kann.

Von Hanno Charisius, Georg Mascolo und Nicolas Richter

Im Kampf gegen das Coronavirus reifen in der Bundesregierung Überlegungen, das Virus mithilfe massiv ausgeweiteter Tests einzudämmen. Vorbild ist dabei Südkorea, das mit Massentests und der Isolierung von Infizierten die Ausbreitung des Erregers stark verlangsamt hat, ohne das öffentliche Leben zum Stillstand zu bringen. Die größtmögliche Erhöhung der Testkapazitäten in Deutschland sei "überfällig", heißt es nach Informationen von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR in einem vertraulichen Strategiepapier aus dem Bundesinnenministerium mit dem Titel "Wie wir Covid-19 unter Kontrolle bekommen". Demnach müsse die Regierung auf ein Szenario namens "Schnelle Kontrolle" hinarbeiten, um schlimmere Folgen für Gesundheit, Wirtschaft und Gesellschaft abzuwenden.

Die bei Weitem wichtigste Maßnahme gegen das Virus ist den Experten zufolge "das Testen und Isolieren der infizierten Personen". Überprüft werden sollten "sowohl Personen mit Eigenverdacht als auch der gesamte Kreis der Kontaktpersonen von positiv getesteten Personen". Die Fachleute hoffen, dass die Testkapazität in Deutschland "sehr schnell" hochgefahren werden könne. So spielen sie ein Szenario durch, in dem bis Ende April 200 000 Tests pro Tag möglich sind. Derzeit sind nach Angaben von Gesundheitsminister Jens Spahn wöchentlich 300 000 bis 500 000 Coronavirus-Tests möglich. Die bisherige Methode nach dem Motto "Wir testen, um die Lage zu bestätigen" müsse abgelöst werden durch den Ansatz "Wir testen, um vor die Lage zu kommen". In dieser Hinsicht sei Südkorea ein "eindrucksvolles" Vorbild. Anders als etwa China hat Südkorea keine allgemeinen Ausgangsverbote verhängt.

Für breit angelegte Tests seien innovative Lösungen erforderlich, heißt es in dem Strategiepapier. Um das medizinische Personal vor Infizierten zu schützen, sollten Bürger den notwendigen Rachenabstrich selbst erledigen, zum Beispiel in Drive-in- oder Telefonzellen-Teststationen. Um die Suche nach Kontakten von positiv getesteten Personen zu erleichtern, sollten längerfristig computergestützte Lösungen und sogar das Location Tracking von Mobiltelefonen zum Einsatz kommen. Alle positiv Getesteten müssten isoliert werden. Sobald diese Verfahren eingespielt seien, "können sie relativ kostengünstig über mehrere Jahre hinaus die wahrscheinlich immer wieder aufflackernden kleinen Ausbrüche sofort eindämmen", heißt es in dem Papier. Zudem sei es notwendig, die Zahl der Krankenhausbetten deutlich zu erhöhen. Derzeit gebe es in Krankenhäusern und Reha-Kliniken knapp 300 000 Betten. Weitere 60 000 ließen sich voraussichtlich in Hotels und in Messehallen einrichten.

Bundesinnenminister Horst Seehofer hat die Studie am 18. März bei seiner Grundsatzabteilung in Auftrag gegeben. Sie entstand unter Federführung von Staatssekretär Markus Kerber binnen weniger Tage mithilfe des Robert-Koch-Instituts und weiterer Fachleute, unter anderem von ausländischen Universitäten. Inzwischen liegt das Papier auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer und Gesundheitsminister Spahn vor.

Welche Art von Tests eingesetzt werden soll, um zu bestimmen, ob eine Person infiziert ist, wird in dem Papier nicht erwähnt. Das zurzeit gängige Nachweisverfahren ist die sogenannte Polymerasekettenreaktion, kurz: PCR, die das Erbgut der Erreger aufspürt. Experten schätzen, dass aktuell wöchentlich etwa 200 000 solcher PCR-Tests auf das neue Coronavirus in Deutschland gemacht werden. Diese Zahl wurde zu Beginn der Woche auch von Spahn genannt. Er sprach allerdings auch davon, dass notwendige Chemikalien für die Laborarbeit und Testmaterialien allmählich knapp würden.

Wie die zusätzlichen Testkapazitäten geschaffen werden sollen, dazu macht das Papier keine Angaben. Um die Zahl so dramatisch zu steigern, wie in dem Papier skizziert, müssten Chemikalien und Laborgeräte in großem Umfang beschafft werden. Grundsätzlich könnten solche Tests auch in vielen Labors von Universitäten und Biotech-Unternehmen analysiert werden. Die notwendigen Maschinen sind dort meist vorhanden und auch Personal, das damit umgehen kann. Dies zentral zu organisieren, wäre allerdings sehr komplex.

Aus Sicht der Experten des Innenministeriums ist es für den Erfolg entscheidend, dass es der Bundesregierung gelingt, die Bevölkerung zu mobilisieren. Alle müssten erkennen, dass auch sie in eine dramatische Lage geraten könnten, etwa weil schwerkranke Angehörige von überfüllten Krankenhäusern abgewiesen würden. Alle Deutschen müssten auf das Ziel eingeschworen werden, ein Worst-Case-Szenario zu vermeiden, in dem sich die Krankheit monatelang unkontrolliert ausbreiten würde, mit vielen Toten sowie massiven Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft. "Um die gesellschaftlichen Durchhaltekräfte zu mobilisieren, ist das Verschweigen des Worst Case keine Option", heißt es. "Wer Gefahr abwenden will, muss sie kennen." Es ist bei Planspielen dieser Art üblich, dass Experten das schlimmste Szenario durchspielen: In diesem Fall gehen die Fachleute davon aus, dass bei einer ungebremsten Verbreitung des Virus 80 Prozent der Patienten, die auf die Intensivstation müssten, von den Krankenhäusern abgewiesen würden.

Das positivste Szenario aus dem Innenministerium geht davon aus, dass Ausgangsbeschränkungen zu einem starken Rückgang der Fallzahlen führen. Gegen Ende der Osterferien könnten Kindergärten und Schulen wieder öffnen, die Infektion würde dann durch intensives Testen, Nachverfolgung von Kontakten und Isolation kontrolliert.

Kanzlerin Merkel erteilte am Donnerstag Überlegungen eine Absage, alsbald die Beschränkungen des öffentlichen Lebens aufzuheben. Derzeit verdoppele sich die Zahl der Infizierten innerhalb von vier bis fünf Tagen. Diese Zeitspanne müsse "in Richtung von zehn Tagen" verlängert werden. Sie müsse deshalb "die Menschen in Deutschland um Geduld bitten".

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SZ vom 28.03.2020
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