Corona-Krise:Gesundheitsämter am Limit

Immer mehr Behörden stoßen bei der Nachverfolgung von Neuinfektionen an ihre Grenzen. Im bayerischen Landkreis Berchtesgaden wird das öffentliche Leben nun massiv heruntergefahren.

Von Matthias Drobinski, Jan Heidtmann, Matthias Köpf, Michaela Schwinn, Mike Szymanski und Christian Wernicke, Frankfurt

Deutschlandweit geraten die Gesundheitsämter bei der Rückverfolgung der Infektionsketten zunehmend an ihre Grenzen. Am Montag waren 71 der 400 Ämter für einen Kreis oder eine Stadt mit einer Infektionszahl von mehr als 50 pro 100 000 Einwohner innerhalb einer Woche zuständig. Man sei mancherorts "an der Grenze zum Kontrollverlust", sagte Gerd Landsberg, der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, dem Deutschlandfunk.

Dies gilt auch für den Landkreis Berchtesgaden in Oberbayern: Erstmals seit dem Ende der ersten Infektionswelle gibt es in Deutschland wieder einen Landkreis, in dem das öffentliche Leben weitgehend heruntergefahren wird: Für das Berchtesgadener Land wies das Landratsamt am Montag eine Sieben-Tage-Inzidenz von 272,8 aus - zu diesem Zeitpunkt den höchsten Wert in Deutschland. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) kündigte am Mittag einen lokalen "Lockdown" für den Landkreis an. Die Kontakte der Infizierten können nicht mehr zurückverfolgt werden, "also müssen Kontakte fundamental beschränkt werden", sagte er.

Aber auch in anderen Bundesländern sind die zuständigen Behörden am Limit. Im hessischen Offenbach, wo die Sieben-Tage-Inzidenz am Montag bei 119,7 lag, arbeitet laut Stadtverwaltungssprecher Fabian El Cheikh ein mit 34 Vollzeitstellen ausgestatteter Stab "auch am Wochenende bis spät in die Nacht und hart an der Belastungsgrenze" daran, Kontakte von Infizierten zu finden und zu informieren.

Im Berliner Bezirk Neukölln, wo die Inzidenz zuletzt bei 173 lag, befinde man sich "im absoluten Krisenmodus", wie Gesundheitsstadtrat Falko Liecke (CDU) sagte, was auch mit den mangelnden Kontrollen der Beschränkungen zusammenhänge. Bürgermeister Martin Hikel (SPD) hat in einem Brief an die Berliner Innenverwaltung gefordert, die Arbeitszeit der Ordnungsämter auszuweiten. Bislang gilt für ganz Berlin ein Büroschluss von 24 Uhr - eine Stunde nach der Sperrstunde, die ja eigentlich überwacht werden muss. Die Bezirke Charlottenburg-Wilmersdorf und Lichtenberg haben die Dienstzeiten bereits bis zwei Uhr nachts ausgeweitet.

Für das bevölkerungsstärkste Bundesland Nordrhein-Westfalen hat Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann die Herausforderung in Zahlen gefasst: Die Anzahl der Mitarbeiter in kommunalen Gesundheitsämtern müsse schnellstens von 2200 auf 4500 verdoppelt werden. Ein Großteil werde durch die Umbesetzung aus anderen Ämtern bewältigt, noch aber klaffe "eine Lücke von 1000". In den Rathäusern der drei NRW-Hotspots Solingen, Wuppertal und Herne räumt man ein, man habe zuletzt nicht mehr an allen Tagen sämtliche Infektionsketten nachverfolgen können. Auch in Essen und Köln arbeiten die Gesundheitsämter nach Angaben der Stadtverwaltungen am Anschlag. Aber auch ländliche Regionen haben zunehmend Probleme. Im Eifelkreis Bitburg-Prüm, wo die Inzidenz zwischenzeitlich auf 130 gestiegen war, bezeichnete ein Sprecher die Lage als angespannt.

In Bitburg werden in dieser Woche zusätzlich acht Bundeswehrangehörige eingearbeitet, die bei der Nachverfolgung helfen sollen. Bei der Bundeswehr hat sich die Zahl solcher Hilfeersuchen innerhalb von kurzer Zeit verdoppelt, nach Angaben des Verteidigungsministeriums helfen Soldatinnen und Soldaten derzeit in 71 Gesundheitsämtern aus, 13 weitere Anträge befänden sich in der Planung. Nach Angaben eines Sprechers sind derzeit mehr als 1300 Bundeswehrangehörige im Corona-Kriseneinsatz; insgesamt könne die Bundeswehr bis zu 15 000 mobilisieren.

Offenbar wird es aber trotz des Engagements der Behörden zunehmend schwierig, die Kontakte von Infizierten zurückzuverfolgen. Anders als zu Beginn der Pandemie könnten Betroffene häufig nicht mehr sagen, wo sie sich angesteckt haben, sagt Julian Schwarze, Sprecher der Grünen-Fraktion in Friedrichshain-Kreuzberg. Aus zahlreichen Behörden kommen ähnliche Berichte - auch weil Infizierte nicht zugeben wollen, an einer illegalen Party teilgenommen zu haben oder Verwandte partout nicht in Quarantäne wollen.

Da die Ämter zunehmend mit der Kontaktverfolgung überfordert sind, empfiehlt Ute Teichert, die Vorsitzende des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, über andere Methoden der Infektionsbekämpfung nachzudenken - etwa über die sogenannte Cluster-Strategie, nach der etwa eine ganze Schulklasse in Quarantäne geschickt wird, ohne dass es einen Nachweis über eine Infektion gibt. "Dafür müssten allerdings die rechtlichen Grundlagen geändert werden." Andere Experten, wie der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, empfehlen, die Corona-Warn-App stärker in die Bekämpfung der Pandemie einzubeziehen. Deren Vorteile müssten besser vermittelt werden. Warum 40 Prozent der Nutzer ihr positives Testergebnis dort nicht eintrügen, "das sollte uns beschäftigen".

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