Corona-Krise:Fieberkurven

Die Corona-Infizierten in Deutschland stecken weniger Menschen an als noch vor Tagen. Aber was bedeutet das? Und wie aussagekräftig sind die anderen Zahlen zur Epidemie?

Von Christina Berndt und Kristiana Ludwig, Berlin/München

Die beste Nachricht des Tages hatte am Freitag eine Null vor dem Komma. In der Corona-Krise sei die Reproduktionszahl nunmehr auf 0,7 gesunken, vermeldete das Robert-Koch-Institut. Ein Infizierter stecke demnach weniger als einen weiteren Menschen an, die Zahl der Neuerkrankungen gehe also leicht zurück. Auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn feierte die 0,7 während seiner Pressekonferenz am Freitag und sagte: "Der Ausbruch ist, Stand heute, wieder beherrschbar und beherrschbarer geworden." Die "Vollbremsung" des öffentlichen Lebens durch die Abstandsregeln und die Schließung von Schulen und Geschäften zur Eindämmung der Epidemie zeige Erfolg. Allerdings müsse die Reproduktionsrate nun dauerhaft unter eins bleiben, um die Lockerungen der sozialen Einschränkungen aufrechterhalten und sogar ausbauen zu können.

Abermals erhielten die Deutschen somit einen Nachhilfekurs in Statistik und Epidemiologie. War eben noch die Verdoppelungszeit als das Nonplusultra in Sachen Virusbeherrschung gepriesen worden, wurden gute Nachrichten nun über die Reproduktionszahl vermittelt. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte am Mittwoch bereits bei der Verkündung erster Lockerungen der Anti-Corona-Maßnahmen ihren Fokus auf diese Zahl gelegt.

Tatsächlich taugt die Reproduktionszahl in der aktuellen Phase der Epidemie sehr gut dazu, um die Ausbreitung des Virus zu kontrollieren. Und dies wird in den nächsten Wochen noch nötiger sein als zuvor: Sollte die Reproduktionszahl durch die Lockerung der Maßnahmen auf einen Wert größer eins steigen, bedeutet dies, dass sich der Erreger wieder stärker ausbreitet. Ein Mensch steckt dann mehr als einen anderen an. Je größer die Reproduktionszahl wird, desto rasanter wird das Tempo der Ausbreitung. Schon ein Wert von 1,3 würde die Krankenhäuser im Juni an ihre Belastungsgrenze bringen, sagte Merkel.

Während also bereits kleine Änderungen der Reproduktionszahl deutliche Warnsignale senden, hilft die Verdoppelungszeit bei der Erfassung des Infektionsgeschehens inzwischen weniger als noch zu Beginn der Epidemie. Denn die Verdoppelungszeit ist der Zeitraum, in dem sich die Zahl der Neuinfektionen auf das Zweifache erhöht. Am Anfang der Epidemie in Deutschland lag diese Zeit bei zwei bis drei Tagen, die Zahl der Infizierten vergrößerte sich exponentiell. Doch die Berechnung der Verdoppelungszeit ist nicht unproblematisch, es gibt verschiedene Modelle dafür. Vor allem aber schwindet die Bedeutung dieses Werts umso mehr, je besser die Ausbreitung des Virus in Schach gehalten wird. Denn er ist vor allem geeignet, exponentielle Wachstumsprozesse zu beschreiben, bei einer langsameren Ausbreitung erlaubt er keine gute Einschätzung mehr.

Deshalb ist der Schwenk hin zur Reproduktionszahl sinnvoll. Auch diese Zahl, die man umgangssprachlich als Ansteckungsrate bezeichnen kann, ist aber letztlich nur ein statistisches Hilfsmittel, um die Ausbreitung der Epidemie zu erfassen. Vereinfacht gesagt wird die Zahl der Neuinfizierten an einem Tag mit der Zahl der Neuinfizierten einige Tage zuvor in Beziehung gesetzt. Doch die Zahl der Neuinfektionen ist mit Unsicherheiten behaftet. Sie hängt allein davon ab, welche und wie viele Menschen auf das Coronavirus getestet werden. Es zeigen aber nicht alle Symptome und es gehen auch nicht alle mit Symptomen zum Arzt. Das Robert-Koch-Institut spricht deshalb davon, dass die Reproduktionszahl "geschätzt" wird.

Dennoch ist das Wissen über die Entwicklung dieser Zahl in dieser Phase sehr hilfreich. Denn sie sagt viel über den Erfolg der ergriffenen Maßnahmen aus. Dass sie nun unter den Wunschwert eins gesunken ist, wurde wohl vor allem durch die Kontaktverbote erreicht. Ein Infizierter hat schlichtweg nicht mehr so viele Menschen getroffen wie zuvor, deshalb konnte er nicht mehr so viele anstecken.

Aber die Reproduktionszahl kann auch auf natürlichem Wege sinken - wenn immer mehr in der Bevölkerung immun gegen das Virus werden. Bisher ist allerdings völlig unklar, wie viele Menschen bereits Antikörper gegen Sars-CoV-2 gebildet haben. Hoffnungsvolle Berichte, nach denen schon jeder siebte Bürger immun sein könnte, gelten keineswegs für ganz Deutschland. Manche Forscher gehen nur von ein bis zwei Prozent Immunität aus.

Bei der Einschätzung, ob Deutschland das Virus im Griff hat, spielen aber noch zwei Faktoren eine entscheidende Rolle: die Auslastung der Kliniken und die Zahl der Erkrankten. Der Blick auf diese beiden Faktoren sei zurzeit ebenfalls beruhigend, sagte Spahn. Viele Ärzte sorgten sich grade eher um die Menschen, die aus Angst vor einer Infektion nicht ins Krankenhaus fahren, obwohl sie möglicherweise einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt erlitten. Im Augenblick kämen auffällig wenig dieser Patienten in die Notaufnahmen. Es sei "ganz wichtig, da jetzt die Balance zu finden", sagte Spahn.

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