Süddeutsche Zeitung

Pandemie:Die Zahlen sind schlecht, die Lage ist schlimmer

Zu viele Menschen erkranken an Corona, zu viele Patienten müssen wohl bald auf Intensivstationen um ihre Leben ringen. Es könnten "bald auch zu viele für unser Gesundheitssystem" sein, warnt der Gesundheitsminister. Ärzte und Wissenschaftler rufen eindringlich nach einem harten Lockdown.

Von Angelika Slavik, Berlin, und Berit Uhlmann, München

Es ist nicht leicht, nach einem Jahr Pandemie noch Worte zu finden, mit denen man das Publikum erreicht, es sind ja alle Superlative zur Katastrophenbeschreibung schon ein wenig abgenudelt. Jens Spahn (CDU) versuchte es an diesem Freitag in Berlin deshalb auf der persönlichen Schiene. Er komme, sagte der Bundesgesundheitsminister, "ja selbst von einem Dorf". Da denke man, den Nachbarn kenne man doch, bei dem werde man sich schon nicht anstecken: "Aber so ist es leider nicht." Das Virus verbreite sich eben auch unter Vertrauten. Deshalb müssten private Kontakte eingeschränkt werden, "wenn nötig, so schwer es auch fällt, auch mit nächtlicher Ausgangsbeschränkung".

Spahn will einen harten Lockdown - denn das Land steckt mitten in der dritten Welle, das Robert-Koch-Institut (RKI) meldete am Freitagmorgen mehr als 25 464 neue Corona-Fälle binnen eines Tages, gut 3500 mehr als noch vor einer Woche. "Das sind zu viele", sagte Spahn. Zu viele, die erkrankten, zu viele, die bald um ihr Leben ringen müssten. "Und wenn es so weitergeht, bald auch zu viele für unser Gesundheitssystem."

Die Zahlen sind schlecht, die wahre Lage aber vermutlich noch schlimmer, sagte auch der RKI-Chef Lothar Wieler: Weil während der Osterfeiertage weniger getestet und weniger gemeldet werde, müsse man davon ausgehen, dass die Infektionszahlen in der Realität noch deutlich höher lägen.

Das war zeitgleich auch die Botschaft der Vereinigung der Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Deren Präsident Gernot Marx forderte ein schnelles Runterfahren des öffentlichen Lebens: "Jeder Tag zählt." Allein als Folge jener mehr als 25 000 Neuinfektionen, die von Donnerstag auf Freitag registriert worden sind, würden in den kommenden zwei Wochen 350 bis 750 Schwerkranke auf die Intensivstationen des Landes zukommen.

Dabei seien auf den Intensivstationen schon jetzt nur noch rund 2000 sogenannte High-Care-Betten für Patienten mit besonders hohem Versorgungsaufwand frei. Das mag nicht dramatisch klingen, aber: Im Schnitt hat eine Klinik in Deutschland zwölf Intensivbetten. Eines dieser Betten - das entspricht acht Prozent der Kapazitäten - soll immer für den unerwarteten Notfall frei bleiben, Herzinfarkte, Schlaganfälle oder Verkehrsunfälle. Werden also die acht bis zehn Prozent Notfallkapazität ausgeschöpft, können Kliniken diese Notfälle nicht mehr aufnehmen.

Viele Kliniken streichen bereits OP-Termine

Viele Kliniken strichen deshalb bereits OP-Termine, hieß es bei der DIVI. Derzeit würden mehr als 20 Prozent aller Operationen abgesagt, weil nicht genügend Platz für die Nachsorge auf Intensivstationen sei und Personal für die Betreuung von Covid-Patienten abgezogen werde. Stiegen die Infektionszahlen weiter, müssten noch deutlich mehr Operationen zumindest vorübergehend ausfallen.

Aktuell sind nach Angaben der DIVI 4474 Intensivbetten mit Covid-19-Patienten belegt. Schon jetzt sei nicht mehr abzuwenden, dass die Intensivmediziner bis Ende April mehr als 5000 Patienten versorgen müssen. Würden nicht umgehend Maßnahmen ergriffen, kämen in Kürze noch mehr Patienten auf die Intensivstationen zu als in der zweiten Welle. Anfang Januar behandelten Intensivmediziner und Pflegekräfte fast 5800 Covid-Kranke. Die DIVI forderte daher einen harten Lockdown von zwei bis drei Wochen - "und zwar besser heute als morgen".

Spahn will Geimpften Freiheiten einräumen

Trotzdem wurde am Freitag auch über Erleichterungen gesprochen. Noch im April will der Gesundheitsminister Menschen mit vollständigem Impfschutz - der zwei Wochen nach der letzten Teilimpfung eintritt - die gleichen Freiheiten einräumen wie Menschen, die einen tagesaktuellen, negativen Corona-Test vorweisen können. Die RKI-Experten seien zu dem Schluss gekommen, dass bei Geimpften das Risiko, das Virus weiterzugeben, noch geringer sei als bei negativ Getesteten.

Die Erleichterungen sollen etwa Testpflichten bei Flugreisen oder im Einzelhandel betreffen, zudem sollen Kontaktpersonen von Infizierten nicht mehr in Quarantäne müssen, wenn sie vollen Impfschutz haben und symptomfrei sind. Abstands- und Hygieneregeln würden jedoch für alle weiterhin gelten, zudem müssten sich auch Geimpfte bei der Rückkehr aus einem Virusvariantengebiet testen lassen.

Die Zahl jener, die von den neuen Regeln profitieren, soll laut Spahn schnell steigen: Am Donnerstag sei mit 719 000 Impfungen ein Tagesrekord erreicht worden, auch dank Impfungen in Hausarztpraxen. Zudem hätten die Verhandlungen über eine Lieferung des russischen Impfstoffs Sputnik V begonnen - es sei aber unklar, ob und wann das Vakzin eine europäische Zulassung bekomme und ob es in relevanter Menge geliefert werden könnte.

Er habe auch keine Lust mehr auf Restriktionen, sagte Spahn, auch er wolle Menschen treffen, ins Restaurant gehen, feiern. Aber das Ziel sei doch nun schon nahe, wolle man da wirklich noch riskieren, das Gesundheitssystem zu überlasten?

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