Süddeutsche Zeitung

Corona in Japan:"Wenn das so weitergeht, werden wir keine Leben mehr retten können"

In Japan steigen die Corona-Zahlen so rasant an, dass dem Gesundheitssystem die Überlastung droht. Die Regierung setzt auf höhere Impfquoten - und auf die heilende Kraft der Zeit.

Von Thomas Hahn, Tokio

Am Sonntag beging Japan im Nippon Budokan von Tokio den 76. Jahrestag seiner Kapitulation im Zweiten Weltkrieg. Premierminister Yoshihide Suga von der rechtskonservativen LDP und Kaiser Naruhito hielten Reden. Suga bekannte sich zum Weltfrieden, aber sagte nichts zur japanischen Kriegsschuld. Naruhito hingegen sprach vom "Gefühl tiefer Reue". Außerdem erwähnte er die Corona-Krise. Er nannte sie "eine beispiellose Prüfung". Wegen der Pandemie waren nur rund 185 Menschen da - so wenige wie nie, seit die Gedenkveranstaltung 1963 zum ersten Mal stattfand.

Es wurde also wieder deutlich, dass der Kaiser die Verantwortung Japans als ehemaligem Aggressor ernster nimmt als der Regierungschef. Das Thema ist und bleibt groß, zumal am Freitag und am Sonntag mehrere Kabinettsmitglieder den Yasukuni-Schrein in Tokio besuchten, in dem auch 14 japanischer Klasse-A-Kriegsverbrecher gedacht wird. Aus China und Südkorea kamen empörte Reaktionen.

Aber die andere Krise, die Naruhito erwähnte, ist gerade drängender: Japans Coronavirus-Situation hat sich derart verschärft, dass Experten und Regionalpolitiker sie mit drastischen Worten beschreiben. Der Inselstaat verzeichnete am Freitag zum ersten Mal mehr als 20 000 Neuinfektionen, am Samstag zum zweiten Mal. Die Zahl der Patienten mit schweren Symptomen steigt ebenfalls.

"Wenn das so weitergeht, werden wir keine Leben mehr retten können, die gerettet werden könnten."

Die meisten Betroffenen sind jünger als 65, weil sich Japans Impfprogramm auswirkt. Aber die sogenannte fünfte Welle ist wegen der leicht übertragbaren Delta-Variante deutlich größer als alle anderen davor. Deshalb wächst der Druck auf das Gesundheitssystem, das auch im zweiten Sommer der Pandemie noch nicht gut auf eine hochansteckende, potenziell tödliche Krankheit wie Covid-19 eingestellt ist. Shigeru Omi, der oberste Regierungsberater in Corona-Fragen, hatte schon am Donnerstag gesagt, man müsse das Fußgängeraufkommen in Tokio um 50 Prozent reduzieren, denn: "Wenn das so weitergeht, werden wir keine Leben mehr retten können, die gerettet werden könnten." Tokios wöchentliche Durchschnittszahl der Neuinfektionen war da um neun Prozent im Vergleich zur Vorwoche gestiegen.

Die Lage ist nicht nur in Tokio angespannt. Die Zeitung Asahi berichtete, dass im ganzen Großraum der Metropole "Hunderte von ernsthaft erkrankten Patienten" kaum Aussichten auf ein Krankenhausbett hätten. Sie zitierte Toshihito Kumagai, Gouverneur der Präfektur Chiba, der eine "unsichtbare Naturkatastrophe" befürchtet. Auch ländlichere Präfekturen wie Fukushima, Shiga und Okinawa melden stark belastete Krankenhäuser.

Premierminister Suga sagte am Freitag, er habe zuständige Minister angewiesen, ein Netzwerk von Sauerstoff-Stationen einzurichten, an die sich Erkrankte wenden könnten, die keinen Krankenhausplatz bekommen. Auch seien Anlaufstellen geplant, an denen Patienten eine vor einem Monat zugelassene "Antikörper-Cocktail-Behandlung" bekommen könnten. Außerdem setzt Suga auf das fortschreitende Impfprogramm. Von strengeren Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus sprach er nicht. In Tokio, Osaka und anderen Präfekturen gilt der Corona-Notstand. Dieser sieht zum Beispiel vor, dass Geschäfte und Gaststätten schon um 20 Uhr schließen sollen. Japans Regierung scheint im Kampf gegen Corona auf die heilende Kraft der Zeit zu setzen.

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