Süddeutsche Zeitung

Corona-Impfung durch Hausärzte:Eine Frage der Prioritäten

Lesezeit: 4 min

Sollen Hausärzte die Corona-Impfungen übernehmen? Medizinerverbände werben dafür. Doch nicht alle sind sich wirklich sicher, dass das so eine gute Idee ist - jedenfalls jetzt noch nicht.

Von Werner Bartens

Kennst du das Land, wo das Misstrauen blüht, in Hinterzimmern die Regulierungswut glüht und keine Verordnung ohne fünf Durchschläge von Formular 37B durchgeht? Die abgewandelte Gedichtzeile Goethes könnte einem durchaus in den Sinn kommen, wenn man beobachtet, wie sich Deutschland in der Pandemie mit einem Übermaß an Verordnungen und Sicherheitsbedenken mitunter selbst blockiert. Die größte Wirtschaftsmacht Europas hat sich in den vergangenen zwölf Monaten bei der Virusbekämpfung Maskenmangel und einen Warn-App-Flop geleistet, Schnelltest-Wirrwarr und Impftrödelei.

Bisher ist nur zu erahnen, zu wie viel tausendfachem Leid und Tod die Versäumnisse geführt haben. Und nun drohen sich - trotz des beachtlichen Impfrückstands - Politiker und Bürokraten in der Frage zu verzetteln, ob es Hausärzten zuzutrauen ist, ihren Patienten eine Spritze zu verabreichen. Während der Ministerpräsidentenkonferenz mit der Kanzlerin am Mittwoch wurde offenbar ein nicht geringer Teil der neunstündigen Beratung mit der Debatte verbracht, ob die Hausärzte am besten wissen, wie es ihren Patienten geht, und daher ideal als Impfärzte geeignet wären - oder ob dadurch die Priorisierung der Ständigen Impfkommission (Stiko) ausgehebelt und "wild durcheinander" geimpft werden würde.

Immerhin bereitet Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) eine Änderung der Corona-Impfverordnung vor, welche die "flächendeckende Einbeziehung von Arztpraxen" ermöglicht. Denn die Hersteller der Impfstoffe haben inzwischen alle signalisiert, dass die Vakzine auch bei einer normalen Tiefkühlung durchaus für einige Zeit noch verwendbar sind - was eine Impfung in Hausarztpraxen erlauben würde.

"Sehr bald sehr viel Impfstoff verfügbar"

Doch wann und wie schnell die kommt, ist noch offen. Dabei sei abzusehen, "dass sehr bald sehr viel Impfstoff verfügbar sein wird - endlich! Ich bekomme viele Anfragen von Patienten und Bekannten, ob sie sich impfen lassen sollen", sagt Antonius Schneider. Er ist Chef der Allgemeinmedizin am Klinikum rechts der Isar in München und arbeitet zweimal pro Woche noch in einer Praxis mit. "Das heißt, wir Hausärzte beraten ja jetzt schon - dann können wir gleich selbst impfen." In den Arztpraxen wird längst aufgeklärt, informiert und beruhigt, beispielsweise darüber, wie gut die Impfstoffe wirken und dass bei chronischer Erkrankung nicht Zögern, sondern rasches Impfen zu empfehlen ist.

Schneider führt etliche Gründe auf, die dafür sprechen, Hausärzte schnellstmöglich in die Impfung einzubeziehen: "Wir kennen die Patienten wirklich oft lange Zeit, wissen um ihre Begleiterkrankungen, und es besteht eine gute Vertrauensbeziehung", so der Mediziner. Das erleichtere sowohl die körperliche Einschätzung als auch die Bewertung, wie dringend im individuellen Fall eine Impfung ist - beides bestärke zudem die Motivation der Patienten, sich impfen zu lassen.

"Ich bin auch der Meinung, dass Hausärzte am besten wissen, wer von ihren Patienten am dringendsten die Impfung braucht", sagt Thomas Kühlein, Chef der Allgemeinmedizin am Uniklinikum Erlangen. "Dem steht allerdings eines im Weg: In ihrer bisherigen ,Der-Nächste-bitte-Mentalität' haben Hausärzte selten Übung mit strukturierten Herangehensweisen." Deshalb müssten Priorisierungskriterien definiert werden, nach denen dann wiederum Patientenlisten erstellt würden. Über ein Recall-System könnten die Menschen gezielt zur Impfung eingeladen werden - was bei anderen Impfungen allerdings bisher nicht so gut geklappt habe.

"Auch müssten die Hausärzte bereit sein, manchmal ,nein' oder ,jetzt noch nicht' zu sagen", ergänzt Kühlein das Anforderungsprofil. "Man hat Ärzte im neoliberalen Enthusiasmus politisch so gezielt zu Kaufleuten und Kleinstunternehmern gemacht, als dass man von ihnen jetzt erwarten könnte, manche ihrer Patienten zu enttäuschen." Aus Sorge, manche Patienten zu verlieren, würde mitunter das medizinisch Sinnvolle unterbleiben oder Unnützes gemacht.

"Die Priorisierung wird wohl automatisch in den Hintergrund treten."

Auch den Einwand, dass die Impfreihenfolge durcheinandergeraten könnte, wenn Hausärzte einbezogen werden, wischen zumindest Allgemeinmediziner beiseite. Tatsächlich hat die von der Stiko, dem Ethikrat und anderen Institutionen empfohlene Reihenfolge nicht sehr lange Bestand gehabt. Erst kürzlich wurde sie um Lehrer und Erzieher erweitert. "Wenn sich alle Impfzentren an solche Empfehlungen halten, schreibe ich das der fünffachen Sicherheitsphilosophie und der Obrigkeitshörigkeit eines guten Teils der Bevölkerung zu - und damit auch der Ärzteschaft", lästert Michael Kochen, lange Jahre Präsident der Allgemeinmediziner.

Man dürfe vor lauter Regulierungsbemühungen nicht vergessen, worum es wirklich geht: "Ziel muss es sein, möglichst schnell möglichst viele Patienten zu impfen", sagt der Münchener Allgemeinmediziner Schneider. "Wenn tatsächlich die hohe Zahl an Impfstoffen geliefert wird wie prognostiziert, wird die Priorisierung wohl automatisch in den Hintergrund treten." Zudem werde es immer wieder Patienten geben, die Impftermine nicht wahrnehmen, die übrigen Impfstoffe würden dann wohl per Zufall an jene Patienten verimpft werden, die sich in der Praxis befinden.

"Niemand ist vorbereitet, jeder wird sich's irgendwie hinwursteln."

Stellt sich also die Frage, ob Hausärzte in der realen Welt überhaupt alle Priorisierungskriterien zuverlässig umsetzen könnten. Komplizierte Kontrollmechanismen würden unweigerlich zu Verzögerungen bei den Impfungen führen. Allgemeinmediziner Schneider zufolge sollte die Priorisierung weniger komplex abgestuft werden, auf jeden Fall aber in der Hausarztpraxis: zunächst alle Menschen mit vielen Kontakten, etwa Lehrer, Polizisten, Kassierer, Erzieherinnen, Friseure. Zudem alle Menschen mit gefährlichen chronischen Leiden wie Koronarer Herzkrankheit, Diabetes, Niereninsuffizienz, Tumoren oder Patienten unter immunsuppressiver Therapie. Zusätzlich alle Menschen zuerst über 80 Jahre, dann über 70 Jahre, dann über 60 Jahre.

Der Erlanger Allgemeinmediziner Kühlein regt zudem an, Hausärzten durchaus einigen Spielraum zu lassen. "Ich kann mir eine Patientin mit schwerer Hypochondrie und Angsterkrankung vorstellen, die unbedingt eine Impfung will, aber nach den bisherigen Kriterien erst spät drankommen wird", so das Gedankenspiel des Arztes. "Wäre ich dann berechtigt, sie zu impfen, weil ich es für richtig halte?" Klar, räumt auch er ein, lasse sich dem Problem kaum entgehen, dass manchmal alte Bekannte, Wichtigtuer oder vermeintliche Lokalgrößen früher geimpft werden wollen, als es medizinisch vertretbar wäre. "Nach einem Jahr Covid kommt so etwas wieder mal holterdiepolter", sagt Kühlein. "Niemand ist vorbereitet, und jeder wird sich's irgendwie hinwursteln."

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