Clemens Martin Auer, 63, ist Corona-Sonderbeauftragter im österreichischen Gesundheitsministerium. Zugleich ist der promovierte Politikwissenschaftler Co-Vorsitzender des Lenkungsausschusses, in dem die 27 Mitgliedstaaten die gemeinsame Corona-Impfstoffbeschaffung der EU-Kommission steuern und überwachen. Die Behörde schloss zwischen August und November Verträge über 2,3 Milliarden Impfdosen ab, doch weil die Hersteller langsamer als erhofft oder versprochen liefern, steht das Projekt in der Kritik. Zu Unrecht, findet Auer.
SZ: Herr Auer, hat sich die EU zu viel Zeit gelassen bei den Verhandlungen mit den Herstellern?
Clemens Martin Auer: Entschuldigen Sie, ich kann bei bestem Wissen und Gewissen nicht feststellen, dass wir langsam verhandelt haben. Sofort nachdem die gemeinsame Beschaffung beschlossen worden war, haben wir im Juni festgelegt, mit wem wir verhandeln wollen, und mit den Firmen die Gespräche begonnen. Diese Kritik stammt von Leuten, die diesen Prozess nicht kennen und ihn nicht genau verfolgt haben.
Der Chef von Astra Zeneca sagt, hätte die EU ihren Vertrag genauso früh wie Großbritannien abgeschlossen, gäbe es jetzt in dem Werk, das die EU beliefert, nicht mehr diese Startschwierigkeiten bei der Impfstoff-Fertigung. Das klingt plausibel, oder?
Der Vertragsabschluss ist natürlich wichtig, weil dann alles fix ist, aber wir haben schon Wochen, wenn nicht Monate vorher mit den Unternehmen die Eckpunkte festgelegt: die Mengen, die Qualität, die Preise. Das geschah in den Vorgesprächen, vor der Ausschreibung und vor Beginn der konkreten Vertragsverhandlungen. Und diese Eckpunkte haben sich auch nicht mehr geändert. Wenn jetzt zum Beispiel Astra Zeneca sagt: "Die EU hat so spät bestellt", ist das Blödsinn. Doch der Konzern hat ein Interesse daran, alles umzuinterpretieren, weil das, was im Moment passiert, ein Managementversagen bei der Firma ist.
Astra Zeneca kann wegen Problemen in einem belgischen Werk bis Ende März nur 40 statt 80 Millionen Impfdosen liefern. Zunächst sollten es sogar bloß 31 Millionen sein. Wissen Sie, wo die zusätzlichen neun Millionen Dosen herkommen sollen?
Das belgische Werk allein wird diese Mengen nicht schaffen. Wenn die neun Millionen Dosen extra wirklich kommen - und da bin ich mir nicht sicher -, dann bestimmt nicht aus Belgien. Aber die produzieren ja genug sonstwo auf der Welt.
Die Vertragsverhandlungen haben sich auch hingezogen, weil US-Pharmakonzerne zunächst verlangten, dass die Regierungen Teile der Haftung bei Impfschäden übernehmen. Hätte die EU da nicht besser nachgegeben, der Schnelligkeit zuliebe?
Wir haben angefangen, mit Biontech zu verhandeln, und irgendwann ist die Firma Pfizer dazugekommen, und dann saßen auf einmal amerikanische Anwälte mit am Tisch. Das macht es nicht einfacher. Aber ich weiß nicht, ob all die Kritiker heute wirklich so glücklich gewesen wären, wenn wir den amerikanischen Forderungen nachgegeben hätten. Was wir im Übrigen gar nicht hätten tun dürfen, weil wir nicht mit zivilrechtlichen Lieferverträgen europäisches Produkthaftungsrecht außer Kraft setzen können.
Wieso hat die EU beim Vertragsabschluss nicht einfach noch mehr Geld an die Hersteller überwiesen, damit diese schneller ihre Produktion hochfahren und mehr liefern?
Wir haben denen gesagt: Freunde, ihr müsst schnell sein, wir brauchen das Zeug schnell! Wir haben viel Druck gemacht, dass uns hohe Liefermengen zugesagt werden, aber die meisten Firmen waren eher zögerlich, im Vertrag überhaupt konkrete Liefermengen zu garantieren. Das ist ja eine große Verpflichtung - eine, die Astra Zeneca sicherlich schon bereut. Hätten wir den Unternehmen im Sommer oder Herbst höhere Preise versprochen und höhere Anzahlungen geleistet, hätte das an der Zögerlichkeit nichts geändert.
Der Ökonom Clemens Fuest, der Chef des Münchner Ifo-Instituts, schlägt vor, die EU solle Herstellern, die besonders früh liefern, eine hohe Prämie zahlen, dann würde schon mehr produziert. Was meinen Sie?
So einen Schwachsinn habe ich schon lange nicht mehr gehört. Es geht ja gerade bei den mRNA-Impfstoffen um völlig neue Technologien ohne Erfahrung in der Massenproduktion. Auch wenn wir den Herstellern viermal so viel bezahlt hätten oder jetzt bezahlen würden, hätten wir im Moment keine höheren Produktionskapazitäten. Daher wussten wir immer, dass am Anfang die Impfdosen knapp sein werden. Das ergibt sich schon aus den zugesagten Mengen in den Verträgen. Aber in der Öffentlichkeit sind leider Erwartungen geweckt worden, die zumindest jetzt, im ersten Quartal, nicht erfüllbar sind.
Die Euphorie war halt groß, als am 27. Dezember alle EU-Staaten gleichzeitig ihre Impfkampagnen starteten.
Ob es wirklich so klug war, am 27. Dezember zu sagen: "Hurra, hurra, wir beginnen zu impfen", wo doch jedes Land nur 9750 Impfdosen als Erstlieferung bekommen hatte, kann man im Nachhinein infrage stellen. Die USA und Großbritannien hatten allerdings mit viel Propaganda angefangen zu impfen, und da wollten wir nicht nachstehen. Doch da sind eben zu hohe Erwartungen geweckt worden. In Deutschland trugen dazu auch diese Mega-Impfzentren bei, die man überall aufgebaut hat.
In Ihrer Heimat Österreich nicht?
Mich haben in Österreich die Medien immer gefragt: Warum bauen wir nicht wie in Deutschland diese großen Impfzentren auf? Ich habe immer geantwortet: Wir machen nicht den gleichen Fehler, sondern setzen auf ein kleingliedriges, dezentrales System zum Impfen. Und jetzt flimmern jeden Abend in Deutschland in den Fernseh-Nachrichten Bilder von leeren Mega-Impfzentren. Das österreichische Fernsehen kann diese Bilder nicht machen, weil wir diese großen Impfzentren nicht haben - Gott sei Dank.