Süddeutsche Zeitung

Coronavirus:Große Frage zu den Kleinen

Sollen Schüler nun schleunigst geimpft werden, oder sollte man besser noch warten? Warum es beim Treffen von Kanzlerin und Ministerpräsidenten einmal mehr hoch hergehen könnte.

Von Henrike Roßbach und Angelika Slavik, Berlin

Dass es kompliziert werden könnte, beim Impfgipfel an diesem Donnerstag, war klar. Bund und Länder sollen sich darauf einigen, wie denn nun verfahren werden soll mit dem Impfen von Schülerinnen und Schülern - das birgt, nun ja, Diskussionsstoff für eine lange Nacht. Doch mal abgesehen davon, dass lange Ministerpräsidentenkonferenznächte nach dem Osterruhe-Debakel nicht mehr en vogue sind: Die Ständige Impfkommission (Stiko) hat nun, kurz vor knapp, den Schwierigkeitsgrad noch mal erhöht.

Denn Stiko-Chef Thomas Mertens sagte am Dienstag im Deutschlandfunk, im Hinblick auf die Impfung von Kindern und Jugendlichen müsse "zunächst geklärt werden, inwieweit es eine medizinische Begründung für diese Impfung gibt". Oberstes Ziel seien Schutz und Wohlergehen der Kinder. Für eine Empfehlung sei also entscheidend, inwieweit Kinder eine Impfung für ihren persönlichen Gesundheitsschutz tatsächlich benötigen würden. Andere Argumente, etwa die Öffnung von Schulen, die Teilhabe am öffentlichen Leben oder ein gemeinsamer Urlaub mit den Eltern seien sicherlich keine ausreichende Begründung, alle Kinder zu impfen, so Mertens. Mertens' Kollege Rüdiger von Kries, Epidemiologe und ebenfalls Stiko-Mitglied, wurde noch deutlicher: Er sagte dem RBB, eine allgemeine Impfempfehlung für Kinder und Jugendliche sei "unwahrscheinlich". Keine guten Nachrichten für die Pläne der Bundesregierung - denn die wollte den Kindern und Jugendlichen eigentlich im Sommer in großem Stil die Impfung gegen Covid-19 anbieten.

Mit der Spritze würden "keine Bonbons verteilt", sagt der Stiko-Chef

Ein Grund für die Zweifel bei der Stiko ist das unklare Risiko einer Corona-Impfung bei den Jüngsten. Bislang wurden im Rahmen von Studien etwa 1100 Kinder geimpft. Dabei habe sich die Impfung zwar als wirksam und unproblematisch erwiesen, heißt es. Dennoch dürfe man nicht vergessen, dass mit der Spritze "keine Bonbons verteilt" würden, sondern ein medizinischer Eingriff vorgenommen werde, so Stiko-Chef Mertens. Die finale Entscheidung der Stiko wird in zehn bis 14 Tagen erwartet.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ist derweil erkennbar darum bemüht, die Andeutungen der Impfexperten als keine große Sache erscheinen zu lassen. Die Stiko werde eine Empfehlung aussprechen, sagte Spahn in einem Interview mit RTL. "Im Lichte dieser Empfehlung können dann die Eltern mit ihren Kindern, den Ärztinnen und Ärzten die konkreten Entscheidungen treffen, ob jemand geimpft wird oder nicht." Dies sei eine "individuelle Entscheidung". Vergangene Woche hatte das noch deutlich anders geklungen: Damals hieß es aus dem Gesundheitsministerium, es gebe "ein klar formuliertes Ziel, Kinder und Jugendliche zu impfen, wenn der Impfstoff von Biontech zugelassen ist".

Es ist nicht das erste Mal, dass eine Stiko-Entscheidung die Impfkampagne von Bund und Ländern zumindest zwischenzeitlich durcheinandergebracht hat. Auch im Fall von Astra Zeneca hatte die Kommission dem Gesundheitsminister Ärger beschert. Zuerst wollte die Stiko den Impfstoff nicht für über 65-Jährige empfehlen, dann sollte er nur noch an Ältere verimpft werden - weil bei Jüngeren, sehr seltene, aber schwere Nebenwirkungen auftreten können. Die Stiko-Experten entscheiden zwar immer streng nach der Datenlage. Politisch aber war das Hin und Her ein Debakel: für Spahn, weil in der breiten Öffentlichkeit der Eindruck entstand, er habe die Lage nicht im Griff. Und für die Impfkampagne insgesamt, weil nun viele Menschen kein Vertrauen mehr in den Astra-Zeneca-Impfstoff haben.

Lauterbach kritisiert die Kommission

SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach sieht die sich abzeichnende Entscheidung denn auch kritisch. "Ich hoffe dass die Stiko die geplante Position noch einmal überdenkt", sagte er der Süddeutschen Zeitung. Die Verantwortung für die Impfung werde so auf Ärzte und Eltern abgeschoben. Diese seien damit aber "klar überfordert". Zum jetzigen Zeitpunkt sei davon auszugehen, dass die Impfungen für die Kinder sehr wirksam "und ohne gravierende Nebenwirkungen" sei. "Auf der Grundlage dieser Daten hätte ich eine Empfehlung erwartet." Auf Twitter hatte Lauterbach schon häufiger davor gewarnt, dass auch Kinder an Long Covid erkranken könnten.

Auch die frisch zur Bundesfamilienministerin ernannte Christine Lambrecht (SPD) sagte am Mittwoch: "Wenn ein sicherer Impfstoff für Jugendliche zugelassen ist, kann er einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung der Pandemie leisten. Wir dürfen nicht vergessen: Auch Jugendliche können schwer an Corona erkranken und haben mitunter unter Langzeitfolgen zu leiden." Sie halte es "für wünschenswert und wichtig", dass im Sommer jedem Jugendlichen ein Impfangebot gemacht werden könne. Noch für Ende Mai wird die Entscheidung der Europäischen Arzneimittelbehörde zur Zulassung des Biontech-Wirkstoffs für Kinder erwartet, auch Moderna bemüht sich um eine Genehmigung.

Die Kassenärzte melden Zweifel an

Wie diffizil die Impfentscheidung bei Kindern ist, darauf hat zuletzt auch die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin hingewiesen. In einem Papier konstatierte sie, dass Kinder und Jugendliche am wenigsten unter einer Covid-Infektion litten, "aber am deutlichsten und wahrscheinlich am nachhaltigsten unter den mit der Pandemie verbundenen Einschränkungen". Bei der Frage nach einer Impfempfehlung müsse "als Erstes der unmittelbare Nutzen der Impfung für die betroffene Bevölkerungsgruppe beurteilt werden", und der sei bei Kindern und Jugendlichen verglichen mit Erwachsenen "als gering einzuschätzen". Eine verlässliche Nutzen-Risiko-Abwägung der Impfung von Kindern könne nur bei einer ausreichenden Datenlage erfolgen, die aktuell begrenzt sei. Grundsätzlich begrüßten die Kinder- und Jugendärzte eine erweiterte Zulassung der Impfstoffe, besonders wegen der Impfmöglichkeiten für Kinder mit Risikofaktoren. Für alle anderen bleibt vor allem der mittelbare Nutzen, wenn etwa aus einer Impfung "Konsequenzen für Schulöffnungsstrategien und Teilhabe am gesellschaftlichen Dasein gezogen werden". Daten aber zeigten, dass ein Schulbesuch "auch ohne Impfung bei konsequenter Umsetzung der vorgeschlagenen Hygienemaßnahmen weitgehend gefahrlos erfolgen kann".

Auch die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) meldete Zweifel an. KBV-Vizechef Stephan Hofmeister sagte vergangene Woche, der Blick auf das geringe individuelle Gefährdungspotenzial von Kindern könne eine Impfempfehlung "schwierig machen". Und das Risiko für die "Gesamtpopulation" würde ebenfalls "an Gewicht verlieren", wenn die gefährdeten Teile der Bevölkerung bereits gut geschützt seien. Das Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung kritisierte zudem Spahns Vorstoß, Biontech-Impfstoff für Kinder zu reservieren. Rechnerisch würde das die Impfkampagne "um rund zwei Wochen zurückwerfen", sagte Institutschef Dominik Stillfried dem Handelsblatt.

Und der Schulbetrieb im Herbst? Dass die Impfung Voraussetzung für den Schulbesuch sein könnte, schloss ein Regierungssprecher am Mittwoch ebenso aus wie Ministerin Lambrecht: "Die Teilnahme am regulären Schulunterricht darf nicht davon abhängig gemacht werden, ob eine Schülerin oder ein Schüler geimpft ist", sagte letztere. Auch Marlis Tepe, Vorsitzende der Bildungsgewerkschaft GEW, sagte der SZ: "Impfen darf nicht Voraussetzung für den Schulbesuch sein."

Die Gewerkschafterin sagt aber auch, man müsse sich mit Blick auf die Rückkehr zum Regelunterricht "schon der Frage stellen, wie die Inzidenzen in den Alterskohorten sind". Laut RKI ist die Inzidenz derzeit in der Gruppe der Zehn- bis 14-Jährigen am höchsten, gefolgt von den 15- bis 19-Jährigen. Während bei anderen Öffnungsschritten derzeit nicht auf die Inzidenzen je Altersgruppe geachtet wird - etwa beim Zugang zur Restaurantterrasse - , könnte dieser Punkt bei den Schulen noch zu Diskussionen führen. Zum Beispiel an diesem Donnerstagabend.

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