Großbritannien:Schlafwandler in der Corona-Krise

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Platzhalter in Downing Street: Außenminister Dominic Raab vertrat Premier Boris Johnson, während der sich auf der Intensivstation behandeln lassen musste und sich auf dem Landsitz Chequers erholte. (Foto: Stefan Rousseau/imago images/PA Images)

Nachdem ihn sein Außenminister vertreten hatte, kehrt Premier Boris Johnson nach seiner Corona-Infektion an die Spitze der Regierung zurück. Die muss sich fragen lassen, warum die Pandemie das Land so hart trifft.

Von Cathrin Kahlweit, London

Als sich die Briten am Donnerstag für die BBC-Show "The Big Night In" (Die große Nacht daheim) vor den Fernsehern versammelten, war - zumindest für drei Stunden - die Welt in Ordnung: In einer Spendensammelaktion mit Starbesetzung, deren Einnahmen zwei Hilfsorganisationen zugutekamen, trat auch Prinz William auf.

Als langjähriger Fan der legendären Sitcom "Blackadder", in der Rowan Atkinson ("Mr. Bean") einst unter anderem einen tumben Königssohn gab, spielte diesmal William zur Gaudi der Nation einen tumben Königssohn - in einem Video-Sketch mit dem Autor Stephen Fry, der in " Blackadder" dereinst als royaler Berater Lord Melchett aufgetreten war.

Die Briten lieben diese Sitcom bis heute, aber noch mehr freuten sie sich, mitten im Lockdown, über einen Prinzen, der sich selbst etwas linkisch auf die Schippe nahm und zum Schluss mit der gesamten Familie vor die Haustür trat - um, wie es die Nation jeden Donnerstagabend tut, all denen zu applaudieren, die in der Corona-Krise ihr Leben riskieren, um anderer Menschen Leben zu retten.

Doch die Gute-Laune-Show, die immerhin 27 Millionen Pfund einbrachte, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Unzufriedenheit in Großbritannien wächst über eine Regierung, die ihre selbstgesetzten Ziele in der Krise nicht erreicht und mittlerweile 19 000 Corona-Tote betrauern muss.

Das Kabinett ist tief zerstritten, ob Lockerungen dringend nötig oder überaus gefährlich sind

Wobei schon diese Zahl umstritten ist und weit höher sein dürfte, wie die Financial Times meldete: Nach ihren Berechnungen liegt die Zahl der Toten, die mit dem Virus infiziert waren, etwa doppelt so hoch. Die FT zählt, anders als die Regierung, zu den offiziell gemeldeten Daten jene Toten hinzu, die nicht in staatlichen Krankenhäusern gestorben sind.

Das Nationale Amt für Statistik (ONS), das die Regierungsangaben regelmäßig korrigiert, meldet zudem, die Zahl der verstorbenen Briten habe in England und Wales in der Woche vor dem 10. April um 75 Prozent höher gelegen als sonst; dies sei "beispiellos".

Womöglich schon am Montag soll nun Premierminister Boris Johnson wieder die Amtsgeschäfte aufnehmen; er hatte nach einer schweren Corona-Infektion einige Tage auf der Intensivstation eines Londoner Krankenhauses verbringen müssen und sich zuletzt auf dem Landsitz Chequers erholt.

Zu Beginn seines Klinikaufenthalts hatten britische Medien über ein Machtvakuum spekuliert, denn zumindest die Entscheidung über eine Lockerung der Lockdowns könne nicht ohne den Premier gefällt werden.

Seit fünf Wochen sind Kontaktsperren und Geschäftsschließungen mittlerweile in Kraft, und nach bisherigen Meldungen dürfte das auch noch mehrere Wochen so bleiben, eventuell sogar bis in den Juni hinein.

Dementsprechend titelte der Daily Telegraph am Freitag, Johnson werde in der Downing Street ein zerstrittenes Kabinett vorfinden, dessen eine Hälfte schnellstmöglich eine Exitstrategie fordere, während die andere Hälfte, ebenso wie das wissenschaftliche Beratungsteam, aufgrund ungelöster Probleme bei Schutzkleidung, Tests, Krankenhauspersonal- und -ausstattung vor einer Öffnung warne.

Die Presse schreibt, Johnson habe lieber Urlaub gemacht, als sich mit der Pandemie zu befassen

Die Lektüre, die Johnson während seiner Genesung zu Gesicht bekam, dürfte ebenfalls kaum für gute Stimmung in Chequers gesorgt haben. Denn die öffentliche Meinung kippte, als am vergangenen Wochenende wichtige Medien politische Breitseiten abfeuerten. Die Sunday Times schrieb über "38 Tage, in denen Britannien in die Katastrophe schlafwandelte".

Johnson habe lieber Urlaub gemacht, als sich mit der Pandemie zu befassen, fünf Treffen des Sicherheitskabinetts zu Corona geschwänzt und die Bedrohung viel zu lange nicht ernst genommen.

Der Guardian titelte "Wie konnte es passieren, dass die Antwort Großbritanniens auf das Virus so falsch war", und der Daily Telegraph meldete, wegen fehlender Schutzausrüstung rieten Schwestern- und Ärzteverbände ihren Mitgliedern mittlerweile, den Dienst zu verweigern, anstatt ihr Leben zu riskieren. Downing Street reagierte auf einige Artikel, ungewöhnlich genug, mit Presseerklärungen und bezeichnete die Angaben als "verzerrt".

Ein Kabinettsmitglied nach dem anderen wurde in die täglichen Pressekonferenzen vorgeschickt, um zu erklären, warum es immer noch zu wenig Schutzausrüstung und Tests für Klinikpersonal, geschweige denn für Mitarbeiter in Alten- und Pflegeheimen gebe, warum Nachbarstaaten wie Deutschland ihre Sache anscheinend so viel besser machten, warum die Regierung sich nicht an Beschaffungsprojekten der EU beteilige und warum der Gesundheitsminister versprochen habe, spätestens bis zum Monatsende Testkapazitäten für 100 000 Menschen täglich zu organisieren, obgleich er dieses Versprechen offenbar nicht halten könne.

Die Antworten fielen unterschiedlich überzeugend aus. Kabinettsmitglieder widersprachen einander; Gerüchte über einen Hinauswurf des Gesundheitsministers machten die Runde. Und als gäbe es nicht genug schlechte Nachrichten, zeigte die BBC einen Report über Altenheime, in denen verzweifelte Mitarbeiter dieselbe Maske zwei Wochen lang tragen, weil ein eklatanter Mangel an notwendiger Ausrüstung herrsche.

Gesundheitsminister Matt Hancock versuchte schließlich, zumindest an der Testfront Optimismus zu verbreiten. Noch vor dem Wochenende sollte ein Online-System in Betrieb sein, bei dem sich "key workers", also etwa medizinisches Personal, Pfleger, Lehrer, Polizisten oder Gefängnisaufseher, für Corona-Tests anmelden können.

Etwa 90 Teststationen sollen im ganzen Land aufgebaut werden, aber es sollen auch Tests für die Anwendung daheim an Menschen ausgeliefert werden, die nicht mobil sind. Bisher mussten Betroffene bis zu 200 Kilometer fahren, um sich testen zu lassen. Ob der Plan funktioniert, wird indes allseits bezweifelt. Am Freitagmorgen meldeten die Medien, dass die Tests für daheim schon nach vier Stunden ausgegangen und die Webseite für neue Anmeldungen vorläufig geschlossen worden seien.

© SZ vom 25.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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