Süddeutsche Zeitung

Corona-Pandemie:"Es war die Hölle für uns"

Bundespräsident Steinmeier, Kanzlerin Merkel und andere Spitzenpolitiker treffen Angehörige der Corona-Opfer zu einer Gedenkveranstaltung. Trotz viel Trauer und Leid sieht das Staatsoberhaupt auch einen Lichtblick.

Von Nico Fried, Berlin

Es sind die Erzählungen der Angehörigen, die von diesem Tag in Erinnerung bleiben werden. Detlev Jakobs zum Beispiel berichtet von seiner Mutter, die in einem Altenheim in Koblenz lebte. In der ersten Welle der Corona-Pandemie vor einem Jahr konnte er sie drei Monate lang nicht besuchen. Es sei schwer gewesen, ihr zu erklären, warum plötzlich all die Einschränkungen verhängt worden waren, warum die Mutter die anderen Heimbewohner nicht mehr treffen durfte, nicht mehr plaudern, nicht mehr gemeinsam Kuchen essen, erinnert sich Jakobs.

Im Sommer konnte sich die Familie wieder treffen, Mutter und Sohn weinten vor Freude über das Wiedersehen, die Enkelin brachte der Oma frische Mirabellen mit. Doch im Herbst erkrankte Frau Jakobs an Corona. Sie kam auf eine Isolierstation. Besuche waren nicht mehr möglich. "Wir fieberten und bangten zu Hause mit, konnten aber nichts tun", erzählt der Sohn. Die Mutter verstarb in Einsamkeit. Keines ihrer vier Kinder konnte sie auf dem letzten Weg begleiten. "Das war für uns alle sehr traurig", sagt Jakobs.

Die Spitzen des Staates sind anwesend - vor allem aber Angehörige von Corona-Opfern

Sonntagmittag in Berlin: Der Bundespräsident hat diese Gedenkveranstaltung im Konzerthaus am Berliner Gendarmenmarkt initiiert, auch Vertreter der anderen Verfassungsorgane sind anwesend, Kanzlerin Angela Merkel, Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, die Präsidenten von Bundesrat, Reiner Haseloff, und Bundesverfassungsgericht, Stephan Harbarth. Vor allem aber hat Frank-Walter Steinmeier Angehörige eingeladen, von ihren Erlebnissen zu erzählen und so stellvertretend der fast 80 000 Menschen zu gedenken, die an oder mit Covid-19 verstorben sind.

In seiner Rede sagt Steinmeier zum Motiv seiner Initiative: "Wir sind ermüdet von der Last der Pandemie, und wundgerieben im Streit um den richtigen Weg." Deshalb brauche es "einen Moment des Innehaltens, einen Moment jenseits der Tagespolitik, einen Moment, der uns gemeinsam einen Blick auf die menschliche Tragödie der Pandemie erlaubt". Er mahnt, hinter den Zahlen der Pandemie auch die menschlichen Schicksale zu sehen. "Eine Gesellschaft, die dieses Leid verdrängt, wird als ganze Schaden nehmen."

"Die Zeit war so, wie sie mein Papa nicht verdient hat - wie sie niemand verdient hat."

Steinmeier macht aber deutlich, dass es nicht darum gehe, ausschließlich der an Corona Verstorbenen zu gedenken. Auch viele andere, die nicht infiziert waren, seien wegen der Bedingungen der Pandemie "ohne Beistand und Abschied" verstorben.

So wie Heinz-Georg Wilkens. Er war 53 Jahr alt, litt an Leukämie und wurde im Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf behandelt. "Die letzten Wochen seines Lebens waren nicht so, wie wir sie uns gewünscht hätten", erzählt seine Tochter Finja Wilkens in der Gedenkfeier. "Die Zeit war so, wie sie mein Papa nicht verdient hat - wie sie niemand verdient hat."

Im Sommer 2020 hatte der Vater die Diagnose Blutkrebs erhalten. "eine Welt brach zusammen", erinnert sich die Tochter. Im September kam er ins Krankenhaus, nur per Videoanruf habe man mit ihm sprechen können. "Wir wollten es nicht und doch haben wir ihn alleingelassen." Dann wurde der Vater ins künstliche Koma gelegt. "Kein Kontakt, kein Einblick, kein Handhalten oder einfach da sein", erinnert sich die Tochter. "Es war die Hölle für uns."

Die Ärzte sagten der Familie: "Solange Sie nicht zu ihm dürfen, ist alles in Ordnung." Dieser Satz, sagt Finja Wilkens, werde ihr "für immer im Kopf bleiben". Und dann durften sie zu ihm. Sie verstehe die Vorsichtsmaßnahmen der Krankenhäuser und sei dankbar, sagt die Tochter, dass sie zum Abschiednehmen zum Vater durften. "Aber nur zum Beenden der lebenserhaltenden Maßnahmen am Sterbebett sein zu dürfen und vorher zwei Monate lang nicht bei ihm sein zu können, war einfach nur schrecklich."

Man gedenke aller, "die sterben mussten ohne ein letztes zärtliches Wort, einen letzten liebevollen Blick, einen letzten Händedruck", sagt der Bundespräsident in seiner Rede. Diese Umstände zu kennen, "zerreißt uns das Herz", so Steinmeier. "Es macht uns unendlich traurig."

Die Feier ist auch Ärzten und Pflegekräften gewidmet

Es gehe aber auch darum, den Hinterbliebenen zu zeigen, dass sie nicht allein seien.  Viele hätten ihm geschrieben, es seien Berichte der Verzweiflung gewesen. "Ich weiß, dass einige sich unendlich quälen, weil sie sterbenden Angehörigen auf dem letzten Weg nicht beistehen konnten; dass sie sich sogar vorwerfen, ihre Liebsten im Stich gelassen zu haben." Viele Hinterbliebene hätten Bestattungen, die nur im allerkleinsten Kreis stattfinden konnten, als trostlos empfunden.

Steinmeier weitete den Kreis derer, denen die Feier gewidmet sei, auch auf Ärzte und Pflegekräfte aus, aber auch auf Erkrankte, die noch an den Folgen litten, und auf "jene, die seelisch krank geworden sind vor Einsamkeit und Enge. An Menschen, die Gewalt erlitten haben". Und auch Menschen, die in wirtschaftliche Not geraten seien, gehörten zu den stark Betroffenen, ebenso wie Kinder, die nicht in die Schule gehen, oder Berufsanfänger und Studenten, die nicht loslegen konnten.

Manche Vertreter dieser Gruppen waren am Morgen zu Wort gekommen, in einem ökumenischen Gottesdienst in der Berliner Gedächtniskirche. Ein Intensivpfleger der Berliner Charité wünschte sich in einer Fürbitte mehr Zeit, um den Kranken angemessen zu helfen. "Krankheit, Sterben und Tod lassen sich in diesem langen Jahr nicht wegdrücken, sie schneiden tief ein in das Leben vieler Menschen", sagte der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, Heinrich Bedford-Strohm, sagte, die Erfahrung der Pandemie lege sich wie ein Trauma auf die Seelen. "Für die Verarbeitung werden wir viel Zeit brauchen."

Steinmeier nimmt politisch Verantwortliche gegen Kritik in Schutz

Die zentrale Gedenkveranstaltung am Gendarmenmarkt hatte zuvor auch Kritik hervorgerufen. Manche hielten den Zeitpunkt für verfrüht, weil die Pandemie noch nicht zu Ende sei; andere kritisierten, dass Vertreter des Staates beteiligt seien, deren Politik fehlerhaft gewesen sei. "Ich übersehe nicht", sagte der Bundespräsident in seiner Rede: "Neben der Trauer gibt es bei manchen auch Verbitterung und Wut." Viele fragten sich, "ob bei dem Versuch, Menschenleben zu retten, die Menschlichkeit manchmal auf der Strecke geblieben" sei. Dass die Einschränkungen, die in der Ausnahmesituation der Pandemie notwendig gewesen seien, "unbeabsichtigt auch Leid und Not verursacht" hätten, so Steinmeier, sei "eine bittere Wahrheit".

Er nahm die Verantwortlichen aber auch in Schutz: Die Politik habe "schwierige, manchmal tragische Entscheidungen treffen" müssen, um eine noch größere Katastrophe zu verhindern. Man habe aber auch gesehen, "wie viel Gemeinsinn und Mitgefühl in dieser Gesellschaft stecken", so Steinmeier. "Diese Mitmenschlichkeit - sie ist ein Lichtblick in dunkler Zeit."

Die Witwe Anita Schedel aus Passau, die ihren Mann vor einem Jahr verlor, bemühte sich in ihrer Rede auch um Zuversicht. Die Corona-Müdigkeit nach mehr als zwölf Monaten in der Pandemie nehme zu, so Schedel, die am Sonntag auch Geburtstag feierte. Sie appelliere an alle: "Halten Sie durch!" Es komme auf jeden Einzelnen an.

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