Süddeutsche Zeitung

Sammelunterkünfte:"Man sieht tatenlos zu"

  • Die Liste der großen Flüchtlingsunterkünfte, für die Quarantäne gilt, wird immer länger.
  • Stephan Dünnwald vom Bayerischen Flüchtlingsrat kritisiert das. Auch für Asylbewerber müssten Bedingungen geschaffen werden, in denen Abstandsgebote eingehalten werden können. Pro Asyl sieht das ähnlich.
  • Die Bundesländer halten aber am Konzept Massenunterkunft fest.

Von Claudia Henzler und Dietrich Mittler, München/Stuttgart

In der Erstaufnahmeeinrichtung im württembergischen Ellwangen ist passiert, wovor Flüchtlingsorganisationen schon seit Wochen warnen - und womit auch die Gesundheitsämter ganz offensichtlich gerechnet haben: Wenn das Coronavirus erst einmal den Weg in eine Massenunterkunft für Asylbewerber gefunden hat, ist es nur schwer unter Kontrolle zu halten. Mehr als 250 Menschen haben sich im Ellwanger Flüchtlingslager infiziert. Nicht nur dort nehmen die Behörden an, dass die Bewohner gar nicht die Möglichkeit haben, sich wirksam vor dem Virus zu schützen. Deshalb stellen sie viele dieser Einrichtungen gleich komplett unter Quarantäne, sobald die ersten Infektionsfälle auftauchen.

Die Liste der großen Flüchtlingsunterkünfte, für die Quarantäne gilt, wird immer länger. Drei Beispiele: In einem bayerischen Ankerzentrum in der Nähe der unterfränkischen Stadt Schweinfurt gilt eine Ausgangssperre für etwa 600 Geflüchtete. Dort wurde das Virus bislang bei 69 Bewohnern nachgewiesen. In Landshut wurde eine Gemeinschaftsunterkunft für fast 400 Bewohner abgeriegelt, weil dort einzelne positiv getestet wurden. Und schon seit fast drei Wochen stehen die etwa 800 Bewohner der Zentralen Anlaufstelle für Asylbewerber in Halberstadt in Sachsen-Anhalt unter Quarantäne, wo der Test bisher bei 57 Personen anschlug.

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Stephan Dünnwald vom Bayerischen Flüchtlingsrat kritisiert diese Praxis scharf. Während die Landesregierungen zum Schutz jedes einzelnen Bürgers deren Alltag reglementierten, werde hier einfach ein Zaun um einen Infektionsherd gezogen. "Flüchtlinge müssen auch die Chance haben, sich schützen zu können", sagt er. Viele Asylbewerber fühlten sich unzureichend informiert und hätten Angst. Auch für sie müssten Bedingungen geschaffen werden, in denen Abstandsgebote eingehalten werden können. Das sei aber in den großen Unterkünften, in denen sich mehrere Personen ein Zimmer und noch mehr ein Bad teilen müssen, nicht machbar.

Günter Burkhardt, Geschäftsführer der Organisation "Pro Asyl", appelliert an die Innenminister der Länder, sich von "ordnungspolitischen Denkkategorien der Vor-Corona-Zeit" zu lösen. Andernfalls sei absehbar, dass es in den Massenunterkünften Hunderte Erkrankte, möglicherweise auch Tote gebe. "Man sieht tatenlos zu, wie sich das Virus ausbreitet. Das ist fahrlässig." Die Flüchtlingsräte aller Bundesländer haben bereits vor vier Wochen gefordert, Flüchtlinge während der Pandemie in leer stehenden Ferienapartments und Hotels unterzubringen, allerdings vergeblich.

Die Bundesländer halten am Konzept Massenunterkunft fest. Auf die Frage, welche Folgen der Fall Ellwangen für die Erstaufnahmeeinrichtungen im Land hat, verweist das Innenministerium von Baden-Württemberg auf eine Reihe von Maßnahmen, die bereits getroffen worden seien: So würden Menschenansammlungen und enge soziale Kontakte vermieden, etwa durch großzügige Bestuhlung in der Kantine, Essensausgabe in Schichten und Lunchpakete. Außerdem dürften die Bewohner auf dem Gelände nur zu zweit oder mit den Personen zusammenstehen, mit denen sie ein Zimmer teilen. Zu Beginn der Pandemie habe man mehr als 1000 Bewohner an die Kommunen verteilt, um die Lage zu entzerren. Das Ministerium räumt aber auch ein: "Aufgrund der besonderen Wohn- und Lebenssituation" in den Erstaufnahmeeinrichtungen "kann das Risiko einer Weitergabe des Coronavirus nicht zu 100 Prozent ausgeschlossen werden".

In Sachsen-Anhalt hat die Landesregierung zunächst versucht, das ehemalige Kasernengelände in Halberstadt durch Zäune in kleinere Einheiten zu teilen. Das hat sie inzwischen aufgegeben. Seit Donnerstag gilt ein Konzept, nach dem die Bewohner alle zwei Tage auf Corona getestet werden sollen. Infizierte will man rasch in eine andere Einrichtung verlegen. Bei Risikogruppen wie Schwangeren, Vorerkrankten und Alten soll das bereits geschehen sein.

Auch die Regierung von Unterfranken setzt auf Tests: "In der Vergangenheit haben wir in der Ankereinrichtung sehr breit getestet, also auch im weiteren Umfeld der Kontaktpersonen. Dadurch gewinnen wir einen guten Überblick über den tatsächlichen Kreis der Infizierten", sagt ein Sprecher. Die Infizierten würden auf dem Gelände in speziellen Gebäuden separiert, ebenso wie gefährdete Gruppen. Alle Bewohner hätten einen Mund-Nasen-Schutz bekommen. Laut Münchner Innenministerium wurde die Belegung der Zimmer in allen Ankerzentren verringert. Außerdem habe man Abstände vergrößert, auch durch längere Öffnungszeiten der Kantinen. Die Bewohner seien in mehreren Sprachen über die Regeln zum Schutz vor Corona informiert worden. Für Gefährdete befänden sich Möglichkeiten für eine gesonderte Unterbringung "in der Umsetzung".

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Quelle:
SZ vom 17.04.2020
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