Wenn EU-Innenkommissarin Ylva Johansson spricht, klingt sie, als sei sie genauso frustriert wie viele Europäer, die gerade ihre Lieben besuchen wollen, aber nicht können. Dutzende Briefe habe sie bekommen, sagte Johansson am Dienstag bei einer Veranstaltung. "Ich bin in Österreich, wir sind in Griechenland, in Polen. Wie komme ich zurück nach Bulgarien, Deutschland, Slowenien? Das zeigt, dass der freie Personenverkehr ein Teil unseres Lebens geworden ist." Im Vergleich zum Beginn der Corona-Krise sei die Situation an den Grenzen inzwischen zwar stabil. "Aber das heißt nicht, dass sie akzeptabel ist, wünschenswert oder ein Modell für die Zukunft."
An diesem Mittwoch will die EU-Kommission Leitlinien zum Abbau der Kontrollen an den EU-Binnengrenzen vorstellen. Einem Entwurf zufolge, der der Süddeutschen Zeitung vorliegt, sollen drei Kriterien bei der Entscheidung berücksichtigt werden, ob Reisebeschränkungen und Grenzkontrollen aufgehoben werden. Als erstes Element nennt das Papier die medizinische Situation auf beiden Seiten der Grenze. Dabei geht es um die Ausbreitung des Virus, aber auch um die Kapazität der Gesundheitssysteme, Kranke zu behandeln und Ansteckungsketten nachzuvollziehen.
Das Ziel müsse sein, in der ganzen EU die Hindernisse abzubauen - "aber wo das nicht geht, sollten wir anfangen, das Reisen zwischen Regionen, Gegenden und Mitgliedstaaten zu ermöglichen, in denen die gesundheitliche Situation sich positiv entwickelt und die Lage vergleichbar ist", sagte Johansson. Dem Entwurf zufolge soll das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) dazu eine Karte zu den Übertragungsraten entwickeln und aktuell halten, die Mitgliedstaaten werden angehalten, die dazu nötigen Informationen zu liefern.
Als zweites Kriterium nennt der Entwurf - der nicht unbedingt der fertigen Fassung des Dokuments entsprechen muss -, dass getroffene Eindämmungsmaßnahmen wie zum Beispiel Social Distancing während der gesamten Reise aufrechterhalten werden können. In dem Kontext sei es zum Beispiel wichtig, dass sich die Mitgliedstaaten beim Einsatz von Apps zur Nachverfolgung von Kontakten eng absprechen.
Als letztes Kriterium wird in dem Papier die Proportionalität erwähnt. Also, ob die oft noch sehr pauschalen Beschränkungen des Güter- und Personenverkehrs etwa durch zielgenauere Maßnahmen ersetzt werden können. Anstelle systematischer Grenzkontrollen könnten die Mitgliedstaaten zum Beispiel "Polizeimaßnahmen" oder Kontrollen auf der Basis von Risikoabschätzungen vornehmen, wie Johansson am Dienstag erklärte.
Viele der Vorschläge der Kommission sind nicht neu - in ihren Grundzügen entsprechen sie jenen Leitlinien, die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel bereits im April als Teil ihrer Exit-Strategie präsentiert hatten. Weil die Fallzahlen in vielen Ländern der EU zurückgehen und die Urlaubssaison bevorsteht, ist der Druck auf die Kommission aber gestiegen, das Reisen im Schengenraum wieder zu ermöglichen. Neben den Vorschlägen für das Aufheben der Grenzkontrollen wird die EU-Behörde am Mittwoch deshalb auch Empfehlungen für die Wiederaufnahme des Passagierverkehrs und für den Tourismus abgeben. Außerdem wird erwartet, dass sie sich zu der in vielen Mitgliedstaaten erhobenen Forderung von Politik und Tourismusindustrie äußert, Reisende bei Ausfällen nicht mit Geld, sondern mit Gutscheinen zu entschädigen.
Anders als bei den Verbraucherrechten sind die Kompetenzen der EU bei der Frage der Binnengrenzen und des Gesundheitsschutzes allerdings sehr begrenzt - deswegen kann die Behörde wie schon zu Beginn der Corona-Krise nicht viel mehr tun, als zu mehr Koordination zwischen den Mitgliedstaaten aufzurufen - und aufzuzeigen, wo das Europarecht den nationalen Maßnahmen Grenzen setzt. "Wenn Mitgliedstaaten den Reiseverkehr wieder erlauben, dürfen sie dabei niemanden diskriminieren - das ist essenziell", sagte Johansson am Dienstag. Wenn ein Staat die Kontrollen bei der Ein- oder Ausreise lockere, müsste das für alle EU-Bürger und alle Bewohner des jeweiligen Landes gelten. "Die Nationalität darf keine Rolle spielen."
Rechtliche Grenzen der nationalen Kontrollen an den Binnengrenzen finden sich allerdings auch im Schengen-Regelwerk; demnach wird es für Mitgliedstaaten nach Ablauf von zwei Monaten deutlich schwieriger, solche Kontrollen weiterhin zu begründen. Der CDU-Europaabgeordnete Andreas Schwab hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bereits Ende der vergangenen Woche in einem Brief auf diese Fristen hingewiesen: Sie solle "sicherstellen, dass diese Kontrollen, vor allem an den Landesgrenzen, nicht unnötig über die ursprünglich angekündigte Frist hinaus verlängert werden".
In den neuen Empfehlungen der EU-Kommission findet sich allerdings keinerlei Hinweis auf diese Regeln. Nur einmal, ganz am Ende, deutet die Behörde an, nicht ewig nur zusehen zu wollen; man werde die Maßnahmen im Auge behalten und "einschreiten und die Aufhebung unverhältnismäßiger Maßnahmen fordern", heißt es da. Bis jetzt allerdings hat sich die Behörde mit solchen Forderungen sehr zurückgehalten. Offenbar ist die Angst vor einem Konflikt noch größer als der Frust.