Süddeutsche Zeitung

Corona-Politik:Wettlauf mit der vierten Welle

Wende bei den Corona-Zahlen: In Deutschland infizieren sich wieder mehr Menschen. Zuletzt diskutierte die Politik vor allem über Lockerungen. Nun macht ein anderes Wort die Runde.

Von Markus Balser, Berlin

Nach langem Sinkflug steigen auch in Deutschland die Corona-Zahlen wieder an und nähren die Angst vor einer vierten Welle. Die wichtige Sieben-Tage-Inzidenz legte nach Angaben des Robert-Koch-Instituts bereits den fünften Tag in Folge zu und lag am Sonntag bei 6,2 Infizierten pro 100 000 Einwohner. Zuvor war sie zweieinhalb Monate fast durchgängig gesunken. Die Gesundheitsämter meldeten bundesweit 745 Neuinfektionen. Das waren fast 200 mehr als vor einer Woche.

Damit bahnt sich ein Wettlauf zwischen der Ausbreitung der ansteckenderen Delta-Variante und der Impfkampagne an. Den Behörden zufolge muss in Deutschland eine Impfquote von mehr als 75 Prozent erreicht werden, um im Herbst schwere Belastungen des Gesundheitssystems auf jeden Fall zu vermeiden. Bislang sind aber erst 42 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft.

"Allerhöchste Wachsamkeit, Vorsicht und Umsicht."

Die ersten Landesregierungen rufen zur Vorsicht auf. Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) forderte mit Blick auf die ansteckendere Delta-Variante "allerhöchste Wachsamkeit, Vorsicht und Umsicht. Die lauten Rufe, die Schutzmaßnahmen aufzuheben, halte ich für absolut verfrüht", sagte Holetschek, der auch Vorsitzender der Gesundheitsministerkonferenz der Länder ist, der Süddeutschen Zeitung. "Maske tragen, Abstand halten und Impfen sind nach wie vor die wirksamsten Mittel, die jeder Einzelne dem Virus selbst entgegensetzen kann. Wir dürfen trotz der niedrigen Inzidenzen in unseren Bemühungen nicht nachlassen."

Noch in den vergangenen Tagen hatten sich Spitzenpolitiker für baldige Lockerungen ausgesprochen. So hatte Außenminister Heiko Maas (SPD) für die Aufhebung aller Corona-Einschränkungen geworben, sobald alle Menschen in Deutschland ein Impfangebot bekommen haben. Ein Sprecher von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) warnte am Sonntag vor zu schnellen Schlüssen aus den steigenden Inzidenzen. "Der Beobachtungszeitraum ist noch zu kurz", sagte er. Es könne sich auch um vorübergehende Schwankungen handeln.

"Das haben die Kinder nicht verdient."

Innerhalb der Regierungsparteien eskaliert derweil der Streit über den richtigen Schutz von Kindern und Jugendlichen. SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach wies die Forderung von Friedrich Merz (CDU) scharf zurück, nach den Ferien unabhängig vom weiteren Verlauf der Pandemie wieder normalen Präsenzunterricht zu starten. "Das haben die Kinder nicht verdient", sagte Lauterbach und warnte vor einer "Durchseuchung der Schulklassen". Kinder hätten Erwachsene geschützt, Opfer gebracht, und sollten jetzt ohne Impfung in einen Feldversuch zu Langzeitfolgen geschickt werden.

Wie schnell die Lage kippen kann, machen andere europäische Länder klar. In den Niederlanden stieg die Zahl der täglichen Neuinfektionen binnen einer Woche um fast das Zehnfache. Das Parlament unterbricht wegen der Lage seine Sommerpause. In Großbritannien liegt die Sieben-Tage-Inzidenz bereits wieder bei über 280. Dennoch will Premier Boris Johnson am Montag verkünden, dass alle Corona-Regeln in England zum 19. Juli aufgehoben werden.

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SZ/mikö/jael
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