Corona-Demos:Recht und Freiheit

Das Verwaltungsgericht Berlin hat das Verbot der Großdemonstration an diesem Samstag in Berlin aufgehoben. Das ist gefährlich für Gesundheit und Leben vieler Menschen. Denn es spricht viel dafür, dass die Auflagen des Gerichts missachtet werden.

Von Stefan Ulrich

Viele Jurastudenten hören im ersten Semester den Satz: Ihr könnt alles vertreten, Hauptsache, es ist gut begründet. Das ist überspitzt formuliert, enthält aber die Erkenntnis: Rechtswissenschaft funktioniert nicht wie Mathematik. Rechtliche Regeln geben meist nicht so eindeutig Ergebnisse vor wie Gesetze der Algebra. Das gilt besonders, wenn Grundrechte kollidieren - wie jetzt im Streit um die für diesen Samstag geplante "Querdenken"-Demo in Berlin.

Die Grundrechte, die da aufeinanderprallen, sind hier die Versammlungsfreiheit von Organisatoren und Teilnehmern, dort das Recht auf Leben und Gesundheit der Menschen, die wegen der Massenveranstaltung an Corona erkranken könnten. Beide Positionen haben höchsten Verfassungsrang. Für Behörden und Gerichte ist es daher sehr schwierig, sie abzuwägen und eine gut begründete Entscheidung zu treffen. Die Berliner Polizei hat dies bereits getan und die beantragte Großdemonstration verboten. Doch nun hat sie das Verwaltungsgericht Berlin am Freitag im Eilverfahren unter Auflagen zugelassen. Die letzte Entscheidung könnte aber erst an diesem Demo-Samstag selbst fallen. Eines darf dabei keine Rolle spielen: die politische Haltung der Demonstranten, die gegen Corona-Beschränkungen protestieren, zum Teil mit Reichskriegsflaggen und Abzeichen rechtsdubioser Vereinigungen. Die Freiheit zu demonstrieren ist gerade in einer indirekten Demokratie, in der die Bürger nur alle paar Jahre ihr Parlament wählen, immens wichtig. Damit die Demokratie offen und lebendig bleibt, muss Menschen verschiedenster Gesinnung das Demonstrationsrecht zukommen. Auch solchen, die Corona für einen Schnupfen halten, Merkel für ein Reptil und die Erde für eine Scheibe. Diese Offenheit verkannte der Innensenator, als er sagte, Berlin dürfe keine Bühne für Corona-Leugner und Rechtsextreme sein. So fühlen sich jene bestätigt, die behaupten, missliebige Meinungen würden in Deutschland unterdrückt.

Doch darum geht es hier gerade nicht. Die Verfügung der Polizei zeigt klar, dass sie ihr Verbot nur auf den Gesundheitsschutz stützte. Und da hatte sie starke Argumente. Bei einer Großdemo desselben Veranstalters am 1. August waren Auflagen, Abstand zu halten und Masken zu tragen, von den meisten der mehr als 20 000 Teilnehmer grob missachtet worden. Der Veranstalter war unfähig, die Auflagen durchzusetzen, die von einer übergroßen Mehrheit der Ärzte und Wissenschaftler angeraten werden. Und da die Polizisten schlecht jeden Demonstranten auf Mindestabstand bringen konnten, musste die Demo aufgelöst werden. Bis das geschehen war, hatte das Virus beste Verbreitungsmöglichkeiten.

Selbiges droht an diesem Samstag. Ankündigungen von Demonstranten und Veranstaltern lassen nicht hoffen, dass der Gesundheitsschutz ernster genommen wird. Die Auflagen, auf die das Gericht setzt, könnten wieder wirkungslos sein - mit gefährlichen Folgen. Die Auffassung der Polizei, Leben und Gesundheit ungezählter Menschen, die durch diese Demo in Reichweite des Virus geraten, wögen schwerer als das Demonstrationsrecht und ließen sich nur durch ein Versammlungsverbot schützen, ist daher gut vertretbar. Und überzeugender als die Haltung des Verwaltungsgerichts.

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