Netz-Aktivismus:"Soziale Medien sind nicht für Proteste ausgelegt"

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So sah der virtuelle Christopher Street Day in München aus: Keine bunt feiernden Massen auf der Straße, dafür ein 18-stündiger Livestream. (Foto: Robert Haas)

In der Pandemie haben etablierte Bewegungen ihre Aktionen ins Netz verlagert. Profitiert haben davon andere, sagen zwei Protestforscher.

Interview von Philipp Bovermann

Klimaaktivisten posten aus dem WG-Zimmer Selfies mit Protestschildern, die "Pride Parade" zum Christopher Street Day fand in Form eines Streams von Interviews und Musikeinlagen statt. Die Pandemie hat zivilgesellschaftliche Bewegungen dazu gezwungen, ihren Protest ins Internet zu verlagern. Wie verändert Netzaktivismus die politische Landschaft? Das untersuchen die Protestforscher Daniel Staemmler von der Humboldt Universität zu Berlin und Maik Fielitz vom Jenaer Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft.

SZ: Herr Fielitz, Herr Staemmler, ist durch die Pandemie eine Hochphase des digitalen Aktivismus angebrochen?

Daniel Staemmler: Die Zuschauerzahlen von Online-Kundgebungen im Videokonferenz-Look, etwa von Fridays for Future oder der Seebrücke, liegen deutlich unter den Teilnehmerzahlen ihrer früheren Demos. Auch die Kommentarspalten zeigen, dass das keine besonders großen Aktionen waren.

Maik Fielitz: Aktivismus im Netz ist nicht so spektakulär wie der auf der Straße: Sprechchöre, Musik, Polizei, Repression, Gegendemo, das gibt es im Netz so alles nicht. Digitale Schwärme agieren vereinzelt. Die sozialen Netzwerke sind nicht für Proteste und schon gar nicht für politische Massenerlebnisse ausgelegt.

Wie kann Aktivismus im Netz dann wirken?

Fielitz: Bisweilen entsteht dort eine ganz eigene Dynamik, bei der die Zielrichtung anfangs noch nicht feststeht und viel von Einzelpersonen abhängt. Ein Beispiel wäre die Bewegung gegen die Corona-Hygieneregeln, die online entstanden ist. Dahinter stecken keine durchorganisierten Strukturen, sondern ad hoc-Akteure, die sich schon zuvor stark in den sozialen Medien präsentiert haben, zum Beispiel als Musiker oder Koch - und plötzlich wird es Teil ihrer Online-Identität, sich als Widerständler zu geben. Dabei vermischen sich Politik, Lifestyle und gewisse kommerzielle Interessen.

Sie meinen, die Demos gegen Corona sind so etwas ähnliches wie Influencer-Events?

Fielitz: Die Leute geraten über ihre Social-Media-Profile damit in Kontakt und landen bei bestimmten Aktivisten, denen sie dann folgen. Diese Influencer benutzen eine sehr persönliche Ansprache über Telegram-Kanäle, ständig kriegt man Push-Nachrichten aufs Handy. Dieses Gefühl des unmittelbaren Kontakts ist einer der Schlüssel, um zu verstehen, warum viele der Teilnehmer ein enges emotionales Band mit den Organisatoren dieser Demos verspüren.

So etwas werden wir häufiger sehen in Zukunft: Dass verstreute Protestgruppen über ein in den sozialen Medien aufgebautes Thema eher zufällig zusammenfinden und sich eine ganz eigene Synthese daraus bildet, die anfangs schwer einzuschätzen ist.

Damit sind wir schon gar nicht mehr im Netz. Sondern in Berlin, auf der Straße.

Staemmler: Protestformen online und offline sind längst verknüpft, man sieht das jetzt durch die Krise nur stärker, weil der übliche Demobetrieb wegfällt. Was sich ändert, sind die Plattformen, auf denen sich das vollzieht.

Über die Black-Lives-Matter-Proteste hat die Influencerin Kareem Rahma gesagt, die App Tiktok sei für die Bewegung, "was Twitter für den Arabischen Frühling war". Ist das die Zukunft?

Fielitz: Dass Tiktok die zentrale Plattform für politischen Aktivismus wird, wage ich zu bezweifeln. Aber die App spricht junge Menschen an, die aktivistische Generation von morgen, ein paar Tendenzen lassen sich also vielleicht schon ablesen. Auf ihr ist die Verschmelzung von Lifestyle und Protest noch stärker ausgeprägt als auf anderen sozialen Plattformen. Popmusik spielt eine wichtige Rolle, die Nutzer hinterlegen ihre kurzen, mit dem Handy gedrehten Videobotschaften mit Songs. Umgekehrt wird ein großer Teil der Popkultur immer politischer, wodurch Künstlerinnen und Künstler als Influencer eine viel stärkere Funktion für politischen Aktivismus bekommen.

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Auf Tiktok geht es weniger um Freundesnetzwerke, der Algorithmus schlägt stärker vor, was man sieht, auch von Fremden. Was folgt daraus für den Aktivismus?

Fielitz: Eine starke Dezentralisierung. Man sieht dort Videos von Leuten, bei denen nicht deutlich wird: Ist das ein politischer Aktivist, hat der eine Agenda, oder macht der einfach nur Spaß? Weil die Inhalte sich viral verbreiten und unvorhersehbar ist, bei welchen das passieren wird, lassen sich die Dynamiken auf Tiktok so gut wie nicht kontrollieren.

Deshalb sind es nicht die Organisationen, von denen politische Entwicklungen ausgehen. Die Nutzer springen spontan auf gewisse Dynamiken und Hashtags auf, und werden so Teil einer breiteren Agenda. Teilweise wissen sie nicht mal, dass sie Teil einer größeren Dynamik sind, einer Bewegung, wenn sie bestimmte Symbole teilen.

Liegen darin nicht auch Gefahren?

Fielietz: Ich will nicht zu schwarz in die Zukunft von Tiktok schauen, aber falls sich, sagen wir, rechte Erkennungszeichen dort verbreiten sollten, wäre das alarmierend. Das ist ja genauso passiert auf älteren Plattformen wie 4chan, dort haben sich rechte Aktivisten solche Dynamiken zunutze gemacht, um über virale Inhalte jüngere Nutzer und andere Subkulturen anzusprechen, etwa Leute, die sich für Mangafiguren interessieren, oder die Gaming-Szene.

Glauben Sie, dass in der Verbindung von Politik und Lifestyle im Online-Aktivismus eine Gefahr für die Demokratie liegt?

Staemmler: Hinter der Sorge steckt die alte Annahme, dass die Leute, wenn sie etwa auf Instagram oder Tiktok politisch aktiv werden, sich nicht auch auf anderen Kanälen informieren. Dass sie Scheuklappen aufgesetzt bekommen und in Scharen in sogenannten Filterblasen verschwinden. Es gibt jedoch keine empirischen Studien, die das nahelegen.

Fielitz: Dem würde ich zustimmen. Ich glaube, dass die Zukunft des digitalen Aktivismus davon abhängt, die Leute von einer Plattform auf andere zu bringen, wo sie sich intensiver mit den Inhalten auseinandersetzen können - und dann auf die Straße. Dieses Gemeinschaftsgefühl erleben zu wollen, mit allem, was dazugehört, statt nur ein paar Posts zu teilen, das wird nicht verloren gehen. Ich glaube, es könnte sogar noch an Bedeutung gewinnen. Nach Corona, versteht sich.

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