Süddeutsche Zeitung

Corona-Bekämpfung:Vorsicht lässt sich korrigieren, Leichtsinn kaum

Maskenpflicht für Schüler, abgesagte Demos: Natürlich sind das Zumutungen. Aber die Politik muss in der Pandemie nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden. Das führt auch die Argumente der "Querdenker" ad absurdum.

Kommentar von Detlef Esslinger

Ob es richtig war, am Samstag die Demonstration in Hanau zum Gedenken an die Opfer des Massakers abzusagen? Ob es richtig ist, dass die Schüler in Nordrhein-Westfalen während des Unterrichts Maske tragen müssen? Und ob es ebenso richtig ist, dass man in Frankreich Maske am Arbeitsplatz tragen muss, es sei denn, man sitzt im Einzelbüro?

Vielleicht wird sich in ein paar Monaten erweisen, dass diese Vorkehrungen übertrieben, in der Sache also nicht nötig und damit "richtig" waren. Aber was gewiss falsch wäre: Entscheidungen, die Politiker während der Pandemie treffen, überhaupt anhand dieses Maßstabs - "falsch oder richtig" - zu sortieren. Immer noch bewegen sich Politik und Wissenschaft auf weitgehend unbekanntem Terrain. Der einzig seriöse Maßstab bleibt: Wird nach bestem Wissen und Gewissen entschieden?

Allen Umfragen zufolge findet die Mehrheit, dass Vorsicht die Maxime sein sollte. Vorsicht lässt sich korrigieren, Unvorsicht und gar Leichtsinn jedoch nicht, oder nur im Anschluss mittels besonders massiver Gebote und Verbote. Natürlich ist es eine Zumutung, dass die Schüler an den weiterführenden Schulen in NRW stundenlang die Maske vorm Gesicht haben sollen. Die größere Zumutung wäre indes, ihnen in zwei, drei Wochen den Unterricht ganz vorzuenthalten, weil Schule auf gut Glück schiefgegangen ist. In Schleswig-Holstein hat die Bildungsministerin entschieden, Masken nur auf dem Schulgelände, nicht aber während des Unterrichts vorzuschreiben. Das ist etwas wagemutiger, bietet aber wenigstens die Chance, dass die Länder voneinander lernen.

Unvermeidlich war wohl, dass der Oberbürgermeister von Hanau die Demonstration untersagt hat. Jeder, der ein Herz hat, muss dies traurig finden. Es ist ja auch schwer zu begreifen, dass 20 000 Leichtsinnige neulich in Berlin die Straße des 17. Juni bevölkern durften und für den nächsten Samstag erneut ihr Kommen angemeldet haben - wohingegen 5000 Menschen in Hanau der Weg verwehrt wurde, obwohl ein Abstandskonzept vorlag.

Aber ein Oberbürgermeister in Hanau ist nicht verantwortlich für Entscheidungen des Bezirks Mitte in Berlin und umgekehrt. Jeder Verantwortungsträger muss entscheiden - in Kenntnis der Umstände bei ihm. Ausgerechnet in Hanau und Umgebung war man am Freitag bei 49 Infektionen pro 100 000 Einwohner angekommen. Das Virus unterscheidet nun mal nicht nach dem Motiv und dem Verantwortungsbewusstsein von Demonstranten. Der OB hat nach bestem Wissen und Gewissen entschieden.

Vielleicht lässt sich die Sache auch so betrachten: Auf den Corona-Demonstrationen wird ja behauptet, den Menschen sollten ihre Grundrechte genommen werden; die Seuchenbekämpfung sei nur ein Vorwand dazu. Wenn aber nun in Hanau eine Demo von Menschen abgesagt wird, von denen wohl kaum einer zum Milieu der Corona-Leugner gehört; wenn zudem die CDU-Chefin erwägt, jenen Parteitag im Dezember zu verschieben, den die CDU dringend zur Klärung ihrer Personalfragen braucht, damit sie endlich weiß, mit welchem Kanzlerkandidaten ihr Bundestagswahlkampf zu planen ist - führt das alles nicht die Behauptung der angeblichen "Querdenker" ad absurdum? Wenn das eine "Corona-Diktatur" sein soll, so muss man sagen: Einen derart dämlichen Diktator hätten die Menschen in echten Diktaturen bestimmt sehr, sehr gern.

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SZ vom 24.08.2020/jps
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