Corona-Folgen in Südeuropa:Der zweite Exodus

FILE PHOTO -  People wait in line to enter a government-run employment office in Madrid

Schlangestehen vor dem Arbeitsamt gehört für junge Südeuropäer, wie hier in Madrid, zum Alltag - nicht erst seit der Pandemie.

(Foto: Andrea Comas/reuters)

Auf die Schuldenkrise folgt die Corona-Krise: Ohne Jobs und Perspektiven verlassen immer mehr junge Südeuropäer ihre Heimat. Das hat dort inzwischen gesellschaftliche Folgen.

Von Francesca Polistina

Eigentlich hatte Daniele Scordato nicht vor, sein Land zu verlassen. Sein Lebensplan war es, in Sizilien zu bleiben. Doch inzwischen hat der 28-Jährige seine Meinung geändert. Eine Stelle als Assistenzarzt ist in Italien nicht garantiert - vergangenes Jahr ging etwa die Hälfte aller Bewerber leer aus.

Scordato würde zwar lieber in Italien Arzt werden und wie viele seiner Landsleute in der Nähe von Familie und Freunden leben. Doch inzwischen hat er sich entschieden, nach Deutschland zu gehen, wo seine Aussichten besser sind, wie er meint.

Scordato ist Teil eines gewaltigen Exodus, der Südeuropa seit mehr als einem Jahrzehnt seiner Talente und seines beruflichen Nachwuchses beraubt. Die Zahl der Italiener und Italienerinnen, die im Ausland leben, ist seit 2006 um 70 Prozent gestiegen. Allein im Jahr 2018 haben 128 000 ihre Heimat verlassen, das ist allerdings nur die offizielle Statistik.

Schätzungen zufolge könnte die Zahl dreimal so hoch sein. Die italienische Migrationsforscherin Delfina Licata sagt, das sei kein vorübergehendes, sondern ein "strukturelles Phänomen". Die Corona-Pandemie wird wohl alles noch schlimmer machen.

Südeuropäer, die 1990 geboren sind, erleben nun die zweite schwere Wirtschaftskrise ihres kurzen Arbeitslebens. Die erste, im Jahr 2010, bescherte Italien nicht nur die dritthöchste Jugendarbeitslosigkeit nach Griechenland und Spanien. Sie prägte auch die Wahrnehmung, Italien sei "kein Land für junge Menschen", wie es im Titel eines Films heißt.

Auch junge Familien verlassen ihr Land

Erst kürzlich erschien der britische Economist mit einem Titelbild, das einen jungen Südeuropäer zeigt, der wie Sisyphos einen riesigen Stein auf einen Berg rollt. Doch von oben kommt ihm schon ein zweiter Fels entgegen, der ihn zu zerschmettern droht.

Viele junge Italiener kehren zwar nach einigen Jahren nach Hause zurück, doch die Zahl der Auswanderer übersteigt die der Rückkehrer derzeit um etwa 70 000 - und die Zahl steigt. Einer OECD-Studie zufolge hatte Italien, nach Rumänen und Polen, zwischen 2006 bis 2016 den europaweit höchsten Anteil an Auswanderern.

Was laut der Migrationsforscherin Licata besonders besorgniserregend ist: Das Durchschnittsalter sinkt, und nicht mehr nur junge Erwachsene, sondern immer mehr Familien mit Kindern verlassen ihr Land. "Wenn junge Familien auswandern, dann wollen sie in der Regel auch in der Ferne bleiben", sagt sie.

Die Zukunft Italiens sieht düster aus

Nun ist die Frage, was nach der Pandemie passieren wird - denn der Wirtschaftsschock betrifft ganz Europa. Die Migrationsströme hängen auch davon ab, wie sich die Situation in den einzelnen Ländern entwickelt, wie Demografie-Experte Corrado Bonifazi vom italienischen Forschungsrat erklärt.

Die Zukunft Italiens sieht düster aus. Schon vor der Pandemie war die Auswanderung für viele Italiener "keine Wahl, sondern eine Notwendigkeit", sagt Migrationsforscherin Licata. Nun prognostiziert eine Konjunkturschätzung der EU-Kommission, dass die Wirtschaftskraft in Italien durch Pandemie und Lockdowns um mehr als elf Prozent schrumpfen wird. Laut den letzten Zahlen betrug die Arbeitslosigkeit der italienischen Jugend im Mai 23,5 Prozent, zwei Prozentpunkte mehr als im Vergleichsmonat 2019.

Dabei waren die Voraussetzungen schon vorher alles andere als günstig. Der Arzt Daniele Scordato sagt: "Italien ist ein Land, das weder in Bildung noch in die Jugend investiert. Ein Land, das nicht nach vorne blickt." Bereits zum Jahreswechsel mahnte der italienische Staatspräsident Sergio Mattarella: "Wir müssen den jungen Menschen Vertrauen geben, auch um den Exodus ins Ausland zu vermeiden. Wir müssen ihnen angemessen bezahlte Arbeitsmöglichkeiten geben und die Bildung neuer Familien fördern."

Prekäre Arbeitsbedingungen - das trifft besonders Frauen

Viele gehen nicht nur weg, weil sie keinen Job finden, sondern auch, weil die Jobs, die es gibt, schlecht bezahlt oder unsicher sind und kaum Aufstiegschancen bieten. Gearbeitet wird oft zu prekären Bedingungen, das trifft besonders Frauen.

Auch der angehende Kinderchirurg Scordato will das nicht akzeptieren: In Deutschland hofft er auf eine "bessere Ausbildung, auf weniger Hierarchie, mehr Praxis und Verantwortung". Er hat während der Pandemie sein Medizinstudium abgeschlossen und wird im August nach Baden-Württemberg ziehen, wo schon sein Bruder wohnt.

Inzwischen verlassen die Menschen nicht nur die strukturschwachen Regionen in Italiens Südens, sondern auch die wohlhabenderen des Nordens wie die Lombardei oder Venetien. Und es gehen nicht nur Akademiker, sondern auch weniger qualifizierte junge Leute. Italien ist nun das Land mit dem höchsten Durchschnittsalter der Europäischen Union. Die Geburtenrate ist niedrig. Kleine Dörfer, vor allem im Süden, drohen auszusterben.

"Hinter jeder Migrationsgeschichte gibt es eine Familie, die bleibt, und Menschen, die alleine alt werden", sagt Migrationsforscherin Licata - und die Familie ist in Italien der Ersatz für einen schwachen Sozialstaat.

Daniele Scordato sagt, auch deshalb sei ihm die Entscheidung zu gehen schwergefallen. Die Videoanrufe, die in der Corona-Zeit einen Boom erlebt haben, werden wohl für ihn zur Normalität werden. Trotzdem ist er entschlossen: In wenigen Wochen geht es los, in einem Krankenhaus in Tübingen hat er einen Praktikumsplatz bekommen. Die Sprache hat er während seines Erasmusjahres in Deutschland gelernt.

Ob er vor der Zukunft Angst hat? "Die Arbeit in einem neuen Land und einer fremden Sprache wird sicherlich schwierig werden, aber ich will die Möglichkeit haben, meinen Beruf wirklich zu lernen - ohne noch länger warten zu müssen". Vielleicht kehrt er ja eines Tages zurück.

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