Corona-Pandemie:Wie Europa in die Krise stolperte

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Trost in der Corona-Hölle: Krankenschwestern während der ersten Welle Mitte März in einer Klinik im norditalienischen Cremona. (Foto: Paolo Miranda/AFP)

Die EU und ihre Mitgliedstaaten versäumten es, rechtzeitig auf die Corona-Bedrohung zu reagieren. Noch im Februar schickten sie Tonnen an Schutzausrüstung nach China. Da begann sich das Virus bereits auf dem Kontinent auszubreiten.

Von C. Berndt, M. Grill, L. Margottini, G. Mascolo, C. Schoen und B. Stockton

Am frühen Morgen des 23. Februar hob eine Maschine vom Flughafen Wien mit einer erstaunlichen Ladung ab. Sie hatte 25 Tonnen medizinische Schutzausrüstung an Bord. Ihr Ziel: China. Fast 2500 Menschen waren zu diesem Zeitpunkt in der Volksrepublik bereits an Covid-19 gestorben. Die EU wollte helfen - auch in der Hoffnung, dass das Virus dadurch Europa fernbleibt. 56 Tonnen Masken, Handschuhe und Desinfektionsmittel haben EU-Staaten daher im Februar insgesamt für China gesammelt.

Die Spende war mehr als großzügig. Denn das neue Coronavirus breitete sich bereits in Europa aus. Und viel mehr als jene Schutzausrüstung, die die EU nach China schickte, hatten die Mitgliedstaaten selbst nicht. So begann Sars-CoV-2 trotz der Versicherungen, die Anfang des Jahres noch aus Brüssel, Berlin, London oder Paris zu hören waren, dass Europa das Virus in Schach halten könne, den Kontinent zu beherrschen.

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Wie hilflos die EU und ihre Mitgliedstaaten darauf reagierten, und wie wenig krisenfest das Krisenmanagement der EU zu Beginn der Pandemie war, zeigt eine Recherche, die das Bureau of Investigative Journalism (TBIJ) aus London mit europäischen Medien geteilt hat, darunter SZ, NDR und WDR. Die EU-Kommission weist die Vorwürfe zurück. Auf Anfrage teilt sie mit, sie habe "sehr früh vor der Gefährlichkeit des Coronavirus gewarnt, noch vor der WHO".

Nach dem denkwürdigen Flug aus Wien vergingen jedenfalls nur drei Tage, da bat Italien die EU-Kommission um Schutzausrüstung. Die Lage in der Lombardei drohte außer Kontrolle zu geraten. Doch auf den Hilferuf folgte nur Stille, es war einfach nichts mehr zum Verteilen da.

In Gesundheitsfragen ist die EU wie ein Arzt ohne Rezeptblock

Dabei hatte Italien die Gefahr noch relativ früh erkannt, die sich in China zusammenbraute. Schon am 27. Januar hatte Rom ein Treffen aller EU-Gesundheitsminister angeregt, um den Umgang mit dem Coronavirus zu koordinieren. Doch das Treffen fand erst zweieinhalb Wochen später statt, und von Koordination war nicht viel zu spüren. Vielmehr wurde aus der Europäischen Union ein europäisches Zerwürfnis, in dem jedes Land seinen eigenen Interessen folgte - auch zum Schaden der anderen. Zugleich entwickelte sich Europa zum Zentrum der Pandemie.

Eigentlich hatte es auch bei der EU durchaus wache Stellen gegeben. So war das Health Security Committee der EU-Kommission, das die Reaktion auf grenzübergreifende Gesundheitsgefahren koordinieren soll, früh auf Covid-19 aufmerksam geworden. Schon am 17. Januar lud das Komitee Repräsentanten aller EU-Gesundheitsminister zu einer Telefonkonferenz ein. Doch von den 27 Mitgliedstaaten nahmen nur zwölf teil, darunter Deutschland - nicht einmal die Hälfte fand das Thema wichtig genug. Auch der Vertreter Italiens war nicht dabei. Auf Anfrage teilte sein Büro mit, dass er die E-Mail mit der Einladung nicht erhalten habe.

So ließ sich schon in der frühen Phase der Pandemie erahnen, mit welchen Problemen die EU-Kommission zu kämpfen haben würde, wenn sie eine EU-weite Reaktion koordinieren wollte. Und es zeigte sich erneut: In Gesundheitsfragen hat die EU ein Problem, sie ist wie ein Arzt ohne Rezeptblock. Denn Gesundheit ist Sache der Mitgliedstaaten.

Teilnehmer der Sitzungen des Health Security Committee erinnern sich zudem an wenig effektive Konferenzen. Noch dazu tagte das Komitee während der Krise nur etwa einmal pro Woche, lediglich in den beiden letzten Januarwochen zweimal; viel zu wenig, um schlagkräftig auf die immer neuen Nachrichten rund um Covid-19 zu reagieren.

Eigentlich hat die EU-Kommission eigens ein Team für das Management jedweder Art von Krise. Es wird von dem Slowenen Janez Lenarčič geleitet. Er sei als Kommissar für humanitäre Hilfe und Krisenschutz so etwas wie der "Prophet of Doom", der Schwarzseher in Brüssel, der das Schlimmste erwarten lässt, damit das Beste daraus gemacht werden kann, wie ein Insider sagt.

Doch Lenarčičs Prophetentum hielt sich bei Covid-19 in Grenzen. Sein Team nahm bis Ende Januar nur an einem einzigen Meeting des Komitees teil. Der Kommissar betont, dass er für Gesundheitsfragen eigentlich nicht zuständig sei. Den Auftrag, sich um die Reaktion auf das Coronavirus zu kümmern, habe er erst am 28. Januar erhalten. Daraufhin habe er diese Rolle sofort und ernsthaft ausgefüllt. So jedenfalls nahm das offenbar weniger pessimistisch eingestellte Gesundheitskommissariat die Risikoeinschätzung vor - und stellte Ende Januar fest, dass sich die Notfallvorsorge der Mitgliedstaaten auf einem "starken Niveau" befinde. Kommissar Lenarčič betont, dass er für Gesundheitsfragen eigentlich nicht zuständig sei. Den Auftrag, sich um die Reaktion auf das Coronavirus zu kümmern, habe er erst am 28. Januar erhalten. Daraufhin habe er diese Rolle sofort und ernsthaft ausgefüllt.

Auch am 13. Februar glaubten sich die meisten EU-Länder noch in Sicherheit. Zu diesem Zeitpunkt fand endlich das Treffen der EU-Gesundheitsminister statt, um das Italien Ende Januar gebeten hatte. Mittlerweile waren innerhalb der EU einige Covid-19-Fälle bestätigt worden. Die Antwort auf diese Bedrohung sei "prompt und effektiv" gewesen, erklärte der kroatische Gesundheitsminister, der das Treffen leitete.

Doch das ECDC, das European Centre for Disease Prevention and Control, eine Art europäisches Robert-Koch-Institut (RKI), sah das anders. Es stellte am Tag darauf in einem internen Bericht, der SZ, NDR, WDR und TBIJ vorliegt, fest: Der "Notfallvorsorgestatus in verschiedenen Mitgliedstaaten" sei "unsicher".

Trotz der Zuversicht der EU-Kommission noch zwei Wochen zuvor war längst Fakt: In den Monaten und Jahren, bevor Sars-CoV-2 nach Europa kam, waren die Vorräte an Schutzausrüstung zusammengeschrumpft. So besaß Frankreich im Jahr 2011 noch 1,7 Milliarden Schutzmasken - Anfang 2020 waren nur 117 Millionen davon übrig. Noch zwischen Januar und März dieses Jahres ließ Paris 1,5 Millionen Masken verbrennen. Belgien ordnete im Jahr 2017 die Zerstörung von 38 Millionen Masken an, die nie ersetzt wurden.

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Noch dazu waren die Pandemiepläne in der EU veraltet. Sie waren seit der Schweinegrippe vor zehn Jahren nicht überarbeitet worden. Obwohl Fachleute seit Jahrzehnten darauf hinwiesen, dass es nur eine Frage der Zeit sei, wann eine neue Supergrippe oder ein anderes gefährliches Virus Tod und Leid über die Welt bringen würde, war die Politik nicht darauf vorbereitet.

Dem ECDC war immerhin seit 2018 klar, dass es an der Zeit war, die Pandemiepläne zu aktualisieren; doch daran arbeitete es Anfang 2020 immer noch. Mitte Februar befand die Behörde trotz Sars-CoV-2, dass sie die bisher erarbeiteten Pläne nicht herausgeben könne, sie seien noch nicht fertig. Ein Trost: Zu dieser Zeit wäre es wahrscheinlich ohnehin längst zu spät gewesen.

Trotz leerer Lager wurde Schutzausrüstung nach China geschickt

Man muss der EU-Kommission zugutehalten, dass sie schon Mitte Januar erstmals über eine gemeinsame Versorgung mit Schutzausrüstung nachdachte. Allerdings wurde ihr Plan erst Ende Februar finalisiert, als weltweit die Vorräte schon zur Neige gingen. Am 5. Februar fragte die Kommission bei allen Mitgliedstaaten nach, wie viel Schutzausrüstung sie benötigen. Es vergingen zwei Wochen mit einer Reihe von gerissenen Deadlines, bis alle Regierungen endlich antworteten.

Als sich am 18. Februar hohe Gesundheitsbeamte aus verschiedenen Ländern im ECDC-Hauptquartier nahe Stockholm trafen, war die Leere in den Lagern schon offenkundig. Bei dem Treffen war auch Osamah Hamouda, Leiter der Abteilung Infektionsepidemiologie am RKI. Er warnte, dass der Markt für Schutzausrüstung in Deutschland "leer" sei und dass es "nicht leicht" würde, die heimische Produktion anzukurbeln. Dennoch startete am 23. Februar die Maschine von Wien nach China.

Erst als Italien am 26. Februar nach Schutzausrüstung fragte, dämmerte Brüssel der Ernst der Lage. "Die wahre Situation wurde klar, als es keine Antwort gab", sagte Lenarčič später. Es war für die Kommission "ein Moment bitterer Wahrheit", wie ein Sprecher auf Anfrage sagte.

Mitte März wagte die Kommission noch einen Versuch von Kooperation und Koordination. Sie wollte einen Vorrat an Schutzausrüstung für alle anlegen. Die Mitgliedstaaten sollten nach dem Schema "RescEU" den Vorrat füllen, die Kommission würde die Verteilung übernehmen. Doch das Ergebnis war mager: Zwar kamen aus Deutschland und Rumänien 350 000 Masken, doch seit April werden in der EU rund zehn Millionen Masken gebraucht - jeden Tag.

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Die Mitgliedstaaten begannen nun, sich um sich selbst zu kümmern. Einzeln kontaktierten sie chinesische Hersteller - und wurden so zu einer Konkurrenz füreinander und für den zentralen EU-Vorrat. Immer mehr Länder erließen einen Ausfuhrstopp für wichtige medizinische Güter.

Am 3. März kündigte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron an, dass er seine Hand auf "alle Vorräte und die Produktion von Schutzmasken" lege. Einen Tag später untersagte Berlin den Export von Schutzausrüstung, obwohl Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) drei Wochen zuvor noch gesagt hatte, es "bringe doch nichts, unilaterale Maßnahmen zu ergreifen".

Die Entscheidung dazu war wenige Tage zuvor, am 28. Februar, angestoßen worden. Da trat zum ersten Mal der gemeinsame Krisenstab von Innen- und Gesundheitsministerium zusammen. Spahns Ministerium beantragte, die Ausfuhr von Schutzkleidung unter einen "Genehmigungsvorbehalt" zu stellen.

Der Geist der Gemeinschaft verflog

Als "Ultima Ratio" sollen Hersteller und Händler von Schutzausrüstung "zur Zurverfügungstellung herangezogen werden können", wie in einem Protokoll der Sitzung steht. Zudem sollten die Beschaffungsämter der Bundeswehr und des Innenministeriums Schutzkleidung einkaufen, um sie zentral zu verteilen. Erst Wochen später räumte die Regierung ein, dass der Plan gescheitert ist.

Der Geist der Gemeinschaft war da längst verflogen und mit ihm die Hoffnung auf eine koordinierte europäische Reaktion. Insgesamt erließen 15 Mitgliedstaaten Restriktionen, die andere EU-Staaten trafen. Lastwagen mit Schutzausrüstung wurden an einigen Grenzen Europas gestoppt. EU-Regierungschefs beschuldigten einander, die Solidarität und den gemeinsamen Binnenmarkt zu zerstören.

Als die EU-Gesundheitsminister am 6. März ihr zweites Treffen abhielten, war der Appell von Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides nur noch ein frommer Wunsch: "Ich bitte Sie alle heute, sich dazu zu verpflichten, gemeinsam, offen und transparent im Geiste der Solidarität zusammenzuarbeiten."

Für eine Eindämmung von Covid-19 war es da ohnehin zu spät. Am 12. März erklärten Berater von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, dass es "nicht länger möglich ist, den Ausbruch in Europa zu stoppen". Einen Tag später nannte die WHO Europa das neue Epizentrum der Pandemie.

Hinweis der Redaktion: In der aktuellen Version des Artikels wurde die Rolle des für Krisenmanagement zuständigen EU-Kommissars Janez Lenarčič um dessen Reaktion ergänzt, er habe erst Ende Januar den Auftrag erhalten, sich um die Reaktion auf das Coronavirus zu kümmern.

© SZ vom 15.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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