Corona in China:Alle werden infiziert sein

Corona in China: Corona-Patienten auf dem Gang in einem Krankenhaus in Chongqing im Südwesten Chinas.

Corona-Patienten auf dem Gang in einem Krankenhaus in Chongqing im Südwesten Chinas.

(Foto: Noel Celis/AFP)

Nach drei Jahren strengster Pandemie-Politik hat Peking die Maßnahmen aufgehoben. Es folgt nun die unkontrollierte Durchseuchung des ganzen Landes. Die Lage dürfte sich noch verschlimmern.

Von Lea Sahay

Der Tag der Öffnung ist der Moment, in dem der jungen Frau, nennen wir sie Chang Yun, klar wird, dass es auch dieses Mal nicht klappen wird. Zwei Jahre hat sie sich auf die Prüfung für Graduierte vorbereitet, um anschließend ein Masterstudium absolvieren zu dürfen. Jetzt hat sie die Teilnahme abgesagt. Die 22-jährige Chinesin hat eine chronische Lungenerkrankung, zu groß ist ihre Angst, sich im Testraum bei anderen Teilnehmern anzustecken.

Seit China seine strikte Corona-Politik faktisch über Nacht aufgegeben hat, wütet das Virus im ganzen Land. Da kaum noch getestet wird, lässt sich das Ausmaß der Welle nicht mehr abschätzen, die das Land gerade überrollt. Dennoch gibt es Meldungen, die einen Eindruck davon geben können.

In Shanghai bereitet ein Krankenhaus sein Personal auf einen "tragischen Kampf" mit Covid-19 vor. Die Hälfte der 25 Millionen Einwohner der Stadt werde sich bis Jahresende infizieren, schreibt das Deji-Krankenhaus auf dem Messengerdienst Wechat. Bereits jetzt seien Schätzungen zufolge rund 5,4 Millionen Einwohner infiziert.

Am Mittwoch meldeten die chinesischen Behörden den zweiten Tag in Folge keinen einzigen neuen Covid-Todesfall. Nur bei Erfüllung sehr eng umgrenzter Kriterien werden Todesfälle in die offizielle Statistik für Covid-19 aufgenommen - dann nämlich, wenn diese durch Lungenentzündung und Atemversagen nach einer Covid-Infektion verursacht wurden. Todesfälle aufgrund von Komplikationen, einschließlich durch das Virus verschlimmerter Grunderkrankungen, werden bei der offiziellen Zählung nicht berücksichtigt.

Bestattungshäuser melden volle Auslastung

Doch im ganzen Land melden Bestattungshäuser volle Auslastung. Anruf in einem Krematorium in der Nordprovinz Liaoning: Dreißig Menschen kann das Unternehmen am Tag einäschern. Inzwischen seien sie am Limit und gäben keine neuen Termine mehr heraus, erzählt ein Mitarbeiter am Telefon. "Wir schaffen es kaum noch."

Was nach drei Jahren strengster Corona-Politik in China passiert, ist nichts anderes als eine unkontrollierte Durchseuchung. Experten rechnen im nächsten Jahr in China mit mehr als einer Million Covid-Toten.

Das Problem ist die niedrige Impfquote im Land: Laut Regierungsdaten sind zwar über 90 Prozent zweimal geimpft, knapp 60 Prozent der Erwachsenen haben eine Auffrischungsimpfung erhalten. Doch gerade viele der 260 Millionen Älteren über 60 Jahre sind unzureichend geschützt: Nur 70 Prozent der mehr als 60-Jährigen und 40 Prozent der Menschen über 80 Jahren haben eine Booster-Spritze erhalten. Außerdem liegt die letzte Impfung bei vielen Chinesen weit zurück.

Aus den chinesischen Krankenhäusern wird gemeldet, dass ihnen die Blutkonserven ausgehen. Die Rettung von schwangeren Frauen und schwer erkrankten Menschen sei in Gefahr, heißt es in den Staatsmedien. Operationen müssten verschoben werden.

Corona in China: Überlastetes Personal: Klinikmitarbeiter in einem Krankenhaus in Shanghai.

Überlastetes Personal: Klinikmitarbeiter in einem Krankenhaus in Shanghai.

(Foto: Aly Song/Reuters)

Die plötzliche Kehrtwende hat das marode Gesundheitssystem unvorbereitet getroffen. In den sozialen Netzwerken teilen die Menschen Tipps, was zu tun ist, wenn sie keine Fiebermedikamente mehr finden.

Selbst in den reichen Metropolen Peking und Shanghai ist die Lage besorgniserregend. Ein Beitrag im Staatsfernsehen zeigt ein Krankenhaus mit Reihen älterer Patienten auf der Intensivstation, die durch Sauerstoffmasken atmen. Der stellvertretende Leiter der Notaufnahme erklärt, man nehme täglich 400 Patienten auf, viermal mehr als üblich.

Das Deji-Krankenhaus in Shanghai wählt noch drastischere Worte: "Wir werden alle Mitarbeiter des Krankenhauses infizieren! Wir werden die ganze Familie infizieren! Unsere Patienten werden alle infiziert sein! Wir haben keine Wahl, wir können nicht entkommen."

Die Erzählung über die Null-Covid-Politik

Es gibt eine Erzählung über die Null-Covid-Politik, und die geht so: Während man sich im Rest der Welt gegen immer neue Wellen stemmte, lebten die Menschen in China wegen der rigorosen Strategie seit Sommer 2020 fast wie vor der Pandemie.

Doch das ist nicht ganz richtig. Studierende wie Chang Yun waren überdurchschnittlich von den strengen Null-Covid-Maßnahmen betroffen. Sie hatten Online-Unterricht, waren für Monate auf dem Gelände ihrer Universitäten eingesperrt, zum Teil direkt in ihren engen Zimmern. Dazu kamen Prüfungsverzögerungen oder Heimreiseverbote. Eine Mitarbeiterin an einer Universität in Peking, die für das Corona-Management zuständig war, sagt: "Wir haben sie 24 Stunden am Tag überwacht."

Chinesische Experten berichten seit 2020 von einem gewaltigen Anstieg psychischer Erkrankungen unter jungen Erwachsenen. Auch Changs Uni schottete ihre Studenten ab. Sie konnte sich nur über den Campusladen versorgen, der astronomische Preise verlangte. Das beste an der Öffnung für sie: das bezahlbare Obst außerhalb der Uni.

An den landesweiten Massenprotesten Ende November beteiligten sich Studenten von mehr als 70 Universitäten. In der Akademie der Schönen Künste in Peking schrieben Studierende mit Graffiti: "Gebt mir meine Jugend zurück."

Viele Menschen haben durch die rigorose Corona-Politik ihre Arbeit und ihren Lebensunterhalt verloren. Doch die Jüngeren hat es mit am härtesten getroffen: Die Jugendarbeitslosigkeit liegt der Regierung zufolge in den Städten bei knapp 20 Prozent.

"Jetzt versuche ich erst einmal, mich selbst zu schützen."

An die Universität von Chang konnten die Unternehmen wegen der Lockdowns nicht kommen: "Und online habe ich nichts gefunden", erzählt Chang Yun. Der Zugangstest zum Masterstudiengang sollte ihr Zeit verschaffen. Dieses Jahr werden voraussichtlich mehr als fünf Millionen Studierende und Jobsuchende an der Prüfung teilnehmen - mehr als je zuvor.

Angesichts des hart umkämpften Arbeitsmarkts studieren fast 20 Prozent der Uniabsolventen weiter, heißt es in einem aktuellen Beschäftigungsbericht. Viele suchen nach "stabilen und langjährigen" Arbeitsmöglichkeiten, der Anteil der Studenten, die sich auf die Beamtenprüfung vorbereiten, hat sich in fünf Jahren verdoppelt.

Aber jetzt kommt wieder Corona dazwischen. Die Lokalregierungen sollen am Wochenende separate Testzentren errichten und Notfallräume für Teilnehmer mit Fieber oder anderen Symptomen, damit jeder teilnehmen kann. Debatten um die Prüfungen werden im chinesischen Netz bereits zensiert, das Wort "Prüfung für Graduierte" ist geblockt.

Chang wird wegen ihrer Vorerkrankung zu Hause bleiben. Seit einem Monat ist sie nicht rausgegangen, sie lebt jetzt alleine in der Wohnung ihrer Eltern, ihre Familie schläft im eigenen Verkaufsladen. Auch zum Neujahrsfest, bei dem traditionell die Familie zusammen feiert, wird Chang niemand treffen. "Fast jeder ist in meiner Stadt infiziert", sagt sie. Im nächsten Jahr will sie wieder einen Job suchen, um ihrer Familie zu helfen. "Jetzt versuche ich erst einmal, mich selbst zu schützen."

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